Monat: Dezember 2020

Alles anders

Das gehört zu den verschwiegenen Demütigungen der Vernunft: dass viele Veränderungen nicht durch Einsicht und Erkenntnis, Geisteskraft und Tatkraft initiiert werden, sondern sich als frustrierte Reaktionen einstellen auf Verlegenheit und Konflikte, die anders nicht gelöst werden konnten. Der Umbruch setzt ein, wenn der Kompromiss nicht gefunden wird oder nichts bewirkt. – Nach Wochen eines schalen lockdown light bestimmt die Enttäuschung über fehlende Effekte die politische Ordnung. Und das Eingeständnis, dass die Furcht vor der Radikalisierung in der Gesellschaft, die zu Rücksichten hier und Ausnahmen dort geführt hat, den Kampf gegen die Seuche nicht radikal genug sein lässt, die sich durch die gesellschaftlichen Gewohnheiten der Menschen fortzeugt. Das Virus nutzt die Sozialität für seine Asozialität. Nicht undenkbar mehr ist eine zweiwöchige stille Nacht: alles geschlossen, jeder bei sich. Aber ein Stern am Firmament, der so die schönsten Perspektiven sichtbar macht.

Satzzeichen der Liebe

Zur Grammatik der Liebe
Das der Liebe angemessenste Satzzeichen ist der Doppelpunkt: Sie verlangt in dem Maße nach Fortsetzung und Steigerung, wie sie von sich selbst überzeugt ist. – Als Frage taugt die Beziehung zwar auch, sofern das Wir, das ein „Uns“ auszeichnet, nicht selbst dauerhaft in Zweifel gezogen wird. Womit haben wir das verdient? Dann hat sie gewiss den Vorzug, dass nichts an ihr selbstverständlich erscheint und sie von den ungezählten Unbedachtheiten des Alltags meist verschont bleibt. Sie erklärt sich vor sich in starkem Selbstbewusstsein. Doch das kann anstrengend sein. – Ohne solche Mühe scheint indes jene Liebe auszukommen, die wie ein lautes Ausrufezeichen ruft: Seht her, das Glück ist ein privates Weltereignis. Ja! – Eingeklammert zu sein, verträgt ein Verhältnis, vor allem wenn sich außerhalb seiner etliche Angebote in Konkurrenz setzen, nicht. Der Liebe ohne den selbstverständlichen Zugriff auf das, was sie nicht ist, fehlt mehr als die Öffentlichkeit. Heimliche Verhältnisse sind selten heimelig. – Am schönsten jedoch ist die Liebe, die nichts zeigen muss, die sich nicht rechtfertigt, die nichts ausschließt außer das, was sie gefährdet, die kein Ende kennt, die nicht wie eine einzige Interpunktion sich selbst hervorhebt, weder Binde- noch Trennungsstrich kennt, sich nicht in Anführungszeichen setzen muss, sondern so unfasslich bleibt wie ein Satz, der nicht aufhört.

Durchatmen

Die, soll man sagen: selber geistige, Verwandtschaft zwischen dem physiologischen Phänomen des Atmens und dem, was wir seit alters „Geist“ zu nennen gewohnt sind, bringt sich in Erinnerung, als die Maske nach stundenlangem Tragen endlich vom Gesicht gerissen werden kann. Durchatmen können, das ist das Gefühl, das Freiheit schenkt. Dass sich der Brustkorb wieder hebt, Spannkräfte in den Körper zurückkehren, keine Hemmnisse sich auftun zwischen Innen und Außen, die frische Luft ungehindert in die Lungen strömt, das alles hängt zusammen und schafft gleich eine wiederbelebte Wohlstimmung. Es kommt nicht von ungefähr, dass in der Mythologie die Lebendigkeit am Odem festgeschrieben wird, der dem Menschen eingehaucht ist zwecks Selbständigkeit, Souveränität, Spontaneität. Erst mit diesem atmenden Geist bekommt er eine Seele. Wenn über die Folgen der in der Pandemie verordneten Maskenpflicht zu handeln ist, mag vor allem das eingeschränkte Lebensgefühl in den Blick rücken. Aber man unterschätze nicht die geisthindernde, ja geisttötende Wirkung eines Stoffs, der den respiratorischen Austausch mit der Welt einengt. Weit tiefer als ins alltägliche Lebensgefühl greifen die Regeln ein ins Lebendigkeitsgefühl, in Seele und Esprit, denen die Gelegenheit genommen ist, frei zu atmen. Paul Valéry hat unter diesem Titel Respirer, unmittelbar nach der Befreiung von Paris durch die Alliierten im Herbst 1944, im „Figaro“ einen kleinenText geschrieben: „Wir haben gesehen und miterlebt, was eine riesige und berühmte Stadt vermag, die atmen will. Und auf einmal nimmt jenes so vage Wort, SEELE, eine wunderbare Bedeutung an.“*

* Werke, Frankfurter Ausgabe 7, 528f.  

Der Mensch als Patient

Besuch beim Arzt: „Im Grund gibt es nur zwei Wege. Gleich, welchen Sie nehmen, Sie landen immer wieder bei uns in der Alltagsmedizin. Ist das nicht schön?“ Leicht maliziöses Lächeln: „Den Übergewichtigen, dem wir regelmäßige Bewegung ans Herz legen, damit er seinen Kreislauf in Schwung bringt, sehen wir spätestens wieder, allerdings in better shape, wenn er mit einer Bänderdehnung nach dem täglichen Lauf um die Häuserblocks kommt oder unglücklich vom Fahrrad gefallen ist. Und den, der nach der Maxime lebt: Sport ist Mord, na der leidet halt öfter an Erkältungen oder Schlimmerem, weil sein Immunsystem schwächelt.“ Das Lächeln hat sich zum Lachen ausgewachsen, immer noch boshaft: „Sie haben nur die Wahl zwischen Verletzung und Krankheit, Pest oder Cholera. Wir Menschen sind von Natur aus Patienten. Und der Arzt ist ein krisensicherer Beruf. Gute Besserung!“

Am Limit

Noch ist, am Ende eines Jahrs, der Blick zurück intensiver als der in die Zukunft. Aber an diesen hängt sich die Sehnsucht, es könne sich bald wieder Schönes mit der Vorstellung verbinden, anderen und anderem zu begegnen, der Theaterbesuch Vorfreude wecken, ein Kinofilm zu langen Kneipengesprächen Anlass geben, die Fernreise unbeschwert angetreten werden, alles in allem: ein Finale der Naturkatastrophe Pandemie in Sicht sein, die uns Menschen zwingt, uns so unnatürlich zu verhalten. Wir sind an der Grenze. Und das meint vor allem: an jenem Punkt, an dem es nötig wäre, Abstand von sich selbst zu nehmen (den Kultur gewährt), um wieder zu sich zu finden. So verlieren wir uns, weil wir genötigt sind, bei uns zu bleiben.

Zweckkollegenschaft

So manches Geschäftsmodell beruht darauf, sich Rat und Tat, Werk oder Dienstleistung „einzukaufen“, indem man den Wettbewerb um einen Auftrag so langwierig und ausführlich gestaltet, dass all die tiefen Einsichten, um die es bei der Problemlösung gehen soll, schon während des Kampfes um den lockenden Auftrag preisgegeben werden müssen. Wo der Bewerber nicht geizen darf mit seinen Inhalten und Methoden, geizt am Ende der Organisator dieser Konkurrenz um Arbeit. Er muss längst nicht mehr so viel zahlen, weil er etliches als eine Art Angeld schon bekommen hat. Das fördert nichts als die heimliche Verachtung derer, die sich als Lieferanten instrumentalisiert sehen, und stärkt den professionellen Zynismus jener anderen, die in ihrer Unverfrorenheit regelmäßig belohnt werden. Und es verdirbt die Qualität der Leistung, die nicht zuletzt entschieden beeinflusst wird vom Engagement, mit dem man sie ausführt und wertschätzt.

Die Wissenschaft der Gesellschaft

Die Gesellschaft, nicht zuletzt die Politik, verlangt von der Wissenschaft in dem Augenblick, da diese ihre Ergebnisse vorlegt, nachdem sie um Rat ersucht wurde, dass sie sich selbst verleugnet und das Grundprinzip ihrer Arbeit beiseitelegt: den Zweifel.