Tag: 25. September 2021

Das kleinere Übel

Jede Wahl lehrt den Abschied von Idealen. Weil nicht zur Entscheidung steht, was man für die beste Alternative hält, wird zum Kriterium der Stimmabgabe das kleinere Übel. So verdichtet die Demokratie den Zwang zu handeln im Verzicht auf das Maximum dessen, was in der Vorstellung erreicht werden könnte. Schon die attische Staatsform, nach den Reformen des Kleisthenes im fünften Jahrhundert vor Christus, reduzierte den Bürgerwillen auf die Negation der Verbannung: Auf den Tonscherben stand der Name dessen, der die Polis für zehn Jahre zu verlassen hatte. Im Scherbengericht bewilligte sich die frühe Volkssouveränität einen Augenblick der politischen Paradoxie; aus Furcht vor der Tyrannei wurde der Erwählte ausgeschlossen, das beste Talent vertrieben, ohne allerdings so garantieren zu können, dass die zweitbeste Lösung die bessere ist. Nie geht es in der Demokratie um Alles oder Nichts, auch wenn Wahlkämpfer das uns weismachen wollen, sondern immer nur um Mehr oder Weniger. Das Absolute ist kein Gegenstand der Politik, weder in der Form des Moralischen, des Apokalyptischen und Historischen, noch in der des Religiösen oder Ideologischen. Im Grunde stellt sich die ideale Partei dar wie eine Plattform, auf der sich unterschiedliche Positionen streitbar präsentieren können, weil es einen belastbaren Rahmen gibt, in dem dieser Konflikt um Lösungen ringt. So gesehen wäre eine Partei die pragmatische Gestalt der Vernunft.