Tag: 2. Februar 2022

Alle guten Gaben

In einer Welt, die in allem nach dem Zweck fragt, ohne immer schon den Sinn angeben zu können, verliert Großzügigkeit ihre Kraft. Kein Geschenk, dem nicht sofort ein Hintergedanke beigeordnet ist, der dem Spender Absichten und die Erwartung einer Gegenleistung unterstellt. Aus unbedarfter Hinwendung wird Herablassung zum Bedürftigen gemacht, die einen Gefallen sofort in ein Gefälle verwandelt und die Asymmetrie der Geste hervorhebt. Unsere Gegenwart kennt die Freigebigkeit kaum noch, deren Freiheit vor allem darin besteht, nichts zu erhoffen außer vielleicht Freude. Aber sie anonymisiert die Szenen der Wohltaten in der Spende, um sie dem Verdacht zu entreißen, eine versteckte Forderung zu enthalten. Jean Starobinski, der feine Beobachter der Ambivalenz sozialer Gesten notiert, dass das Wort „Nächstenliebe“ seinen Platz geräumt habe für das Wort „Solidarität“. „Es wird jedenfalls vorgezogen, weil es als Träger einer Gleichheits- und Gerechtigkeitsforderung ohne Herablassung erscheint, ausschließlich in der horizontalen Dimension.“*

* Gute Gaben, schlimme Gaben, 170