Anatomie des Abschieds

Jede Entscheidung von Gewicht gelingt in dem Maße, wie sie ergreift, was hinter ihr liegt, und ergriffen ist von dem, was ihr voraus ist. Die Kunst, sich so zu verabschieden, dass der Entschluss als letzte Form der Befreiung erfahren wird, lässt sich allzu gern korrumpieren von Beharrungskräften wie Gewohnheit, Angst, Treue, Trägheit, und hängt in ihrer Qualität nicht zuletzt ab von den Attraktionskräften einer neuen Perspektive. Das Leben ist eine Abfolge von Abschieden; dessen Lebendigkeit zeigt sich weder in versonnener Erinnerung noch im gewaltsamen Verdrängen dessen, was man zurückgelassen hat, sondern in einem Schatz an Erfahrungen, deren Belastbarkeit es zu erproben gilt. Ein Abschiedsgewinn könnte der Zuwachs an Wachheit und Unterscheidungsklarheit sein. Rilke hat im XIII. Stück der „Sonette an Orpheus“ gefordert: „Sei allem Abschied voran, als wäre er hinter / dir …“* Es ließe sich mit Fug die Zeile wenden: Nimm allen Abschied mit, sonst hast du nichts vor dir.

* Sämtliche Werke, Bd. 1, 759