Arbeitskrampf

Der juristisch festgeschriebene Wohlwollensgrundsatz, der den Verfassern von Arbeitszeugnissen auferlegt, hinter einer Fassade aus schmeichelnden Wörtern die kritischen Aspekte einer Leistung zu verstecken, führt notgedrungen zu unfreiwillig komischen Verrenkungen der Grammatik. Vor allem, wenn wirklich hervorragende Eigenschaften gekennzeichnet werden sollen. „Stets zur vollsten Zufriedenheit“, die Formel für das, was in der Schule eine glatte Eins heißt, verdient schon deswegen nicht „sehr gut“ genannt zu werden, weil sich die Sprache selbst überbieten muss, um auszudrücken, was sich nicht mehr recht absetzen lässt vor einer Folie scheinbar nur positiver Merkmale. Es gibt keinen Superlativ von „voll“. Die beiden anderen Verpflichtungen des Beurteilenden, die der Zeugnisklarheit und der Zeugniswahrheit, kommen so zu kurz. In solchen verquasten Wendungen verrät sich der prinzipielle Konflikt, der mit der Urteilsfindung einhergeht. Wir können gar nicht nachvollziehbar genau sagen, wie einer ist, weil sich jede Erscheinungsform eines Menschen bei scharfem Hinsehen als zweideutig, gebrochen, vielfältig zu erkennen gibt. Und wir dürfen dennoch nicht unbestimmt lassen, was wir gesehen haben, weil man nur so im Zusammenleben mit anderen einigermaßen orientiert handeln kann. Es ist die Weisheit der alten Verführungsgeschichte, dass sie den Schlamassel der Weltgeschichte beginnen lässt mit dem Wunsch des Menschen, alles durchschauen zu können, im Mythos: sein zu wollen wie Gott. Die Folgerung? Wo wir schon nicht auf das Urteilen verzichten können, sollten wir es beschränken in seiner Häufigkeit, in seinem Anspruch, präzise zu sein, in seiner Reichweite. Es tut gut zu wissen, dass jeder Satz über einen anderen zunächst nur das Bild beschreibt, das ich von ihm habe. Und nicht ihn selbst.