Aura

In den „Mitteilungen über das Wesen der Aura“, die er im März 1930 in seinen „Erfahrungsprotokollen zum Haschischgebrauch“ notierte, schrieb Walter Benjamin: „Vielmehr ist das Auszeichnende der echten Aura: das Ornament, eine ornamentale Umzirkung, in der das Ding oder Wesen fest wie in einem Futeral eingesenkt liegt.“* Das sind die ersten Annäherungen an einen Begriff, den er später in der Abhandlung über das „Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ präzisierte und dort als ein Phänomen der Kunst und der Natur betrachtete: Die Aura sei eine „einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag … Das wesentlich Ferne ist das Unnahbare.“** Solche prinzipielle Unnahbarkeit entdeckt der Mensch in Zeiten der unmittelbaren Ansteckungsgefahr an sich selbst wieder, auch wenn er sich schwertut, sie als eine Auszeichnung zu akzeptieren, die Vorsicht und Respekt, Diskretion und Distanz gebietet. Sie ist natürlich nicht identisch mit dem aktuellen Abstandsgebot und hat nichts unmittelbar gemein mit der Vorsorge bei einem großen Infektionsrisiko. Aber all die Grenzmarken – wie in den Läden auf dem Boden vor den Kassen, am Wochenmarkt als Abstandsstreifen vor den Waren, um die Spielplätze herum, die als Sperrzonen gekennzeichnet sind, selbst der textile Mund- und Nasenschutz – mögen auch daran erinnern, dass nicht nur erhabene Formen in der Kunst, in der Natur oder Religion Erscheinungsweisen sind, denen man zu nahe kommen kann, sondern auch Individuen. Der Mensch ist nicht nur ein zoon politikon, das sich sozial organisiert, sondern in vielerlei Hinsicht ein Distanzwesen, das Übergriffigkeit empfinden kann und sich gegen sie mit Fug wehrt. Und dem entsprochen wird, indem Rituale der Höflichkeit nicht übersprungen werden, Fragen und Rückfragen anzeigen, was Wachsamkeit und Aufmerksamkeit, Fürsorge und Rücksicht bedeuten. Social distancing wäre nicht nötig, wenn jeder den anderen zugleich auch als Fremden ansehen könnte, trotz aller Ähnlichkeit, ihn in seiner Andersheit wertschätzte und dies vor allem Hang zur Nähe und in allen Formen der Nähe als Zeichen der Menschlichkeit verstehen könnte.

* Gesammelte Schriften Band VI, 588
** Ebd. I.2, 480