Der Leser

Zur Erinnerung an den vor kurzem gestorbenen Journalisten und Schriftsteller Henning Ritter, der heute siebzig Jahre alt geworden wäre

Frankfurter Opernplatz, später Nachmittag. Fahrräder schlängeln sich elegant durch die Menge der Passanten. Die immergleichen Anzugträger hasten zur nächsten immergleichen Sitzung. Eine Frau im kurzen Kostüm kämpft mit den vollen Einkaufstüten aus der Goethestraße, drei Jungen in Jeans und schwarzer Jacke unterhalten sich lebhaft gestikulierend. Inmitten des allgegenwärtigen Eilens ein Mann, der sich so gar nicht in das chaotische Treiben fügt. Ab und zu hebt er den Kopf, um sich des Wegs zu vergewissern, die übrige Zeit läuft er vornübergebeugt, den Blick in einen Text vertieft – und liest. Er ist Teil des Gewusels, gewiss, und doch gehört er nicht dazu. Nicht der Platz ist ihm das Zentrum wie so vielen anderen, die hierher kommen, weil sie sich am Brunnen verabredet haben, nicht ein nächster Termin das Ziel, die Stadt scheint ihn nicht weiter zu interessieren. Konzentriert auf die Sätze in seiner Hand geht er langsam in Richtung des Eingangs zur U-Bahn-Haltestelle. Er ist sich selbst genug, seine Lektüre, seine Gedanken, sein stilles Gespräch mit dem Autor dessen, was er studiert.

Warum der Mann dem Beobachter, der ihn schon aus der Ferne von hinten sieht, überhaupt auffällt zwischen all den anderen Individuen? Es ist der Gang. Den kennt dieser. Der ist ihm vertraut, auch wenn er ihn viele Jahre nicht mehr gesehen hat. Die freudige Verblüffung ist groß, als sie einander begegnen, bei beiden. Ich, der Beobachter, habe von weitem meinen früheren Kollegen Henning Ritter wiedererkannt, er auf dem Heimweg, ich in Eile zu einem Treffen. Gesteigert wird die Verwunderung, weil Henning Ritter gerade am Wochenende zuvor einen Essay publiziert hat in der Zeitung, für die wir einst beide schrieben, einen Aufsatz, in dem er nachdachte, wie der Zufall im Leben Regie führt. Das kann doch kein Zufall sein, hieß der Titel, und so war der Tenor des ganzen Stücks. Das hatte ich gelesen und anlässlich dessen mich gefragt, wie es dem Kollegen in der Zwischenzeit wohl ergangen sei. Nun treffen wir uns, ein paar Tage später, zusammengeführt von, ja wovon …? Es folgt ein langes Gespräch, nun schon im Café, die Absichten unterbrechend, die dafür gesorgt haben, dass unsere Wege sich kreuzen.