Die Krankheit der Welt

Carlo Schmid, im Herbst 1979 kurz vor seinem Tod, schreibt einen langen Brief an den damaligen Bundeskanzler und Mitgenossen Helmut Schmidt, der ihn um Rat und Stichworte für eine Rede ersucht hatte, die er auf dem anstehenden Parteitag der SPD halten wollte:
„Die Jugend erleidet den Staat als ein kaltes Ungeheuer, das statt lebendiger Kontakte Fragebogen produziert, sie will auch im öffentlichen Leben Wärme spüren, sie will ,natürlich‘ sein können, sie will weniger Staatsräson und mehr Brüderlichkeit erleben … Bei dieser Jugend, auch bei dem durch diese Ängste nicht betroffenen Teil, herrscht der Impuls vor: die Krankheit der Welt kann geheilt werden, wenn man den Virus, der sie krank macht und der in uns selber steckt, ausrottet: den Virus der Macht … Wo (unter dem Wort ,Demokratie‘) nicht mehr verstanden wird als eine politische Technik zur Ermittlung des Mehrheitswillens im Volke, wird seine Anrufung kaum seelische Kräfte in uns wachrufen; anders, wenn wir darunter den Ausdruck des Willens eines Volkes zur Achtung der Würde eines jeden Menschen und damit seines Rechtes auf Gestaltung der Formen und Inhalte der politischen und gesellschaftlichen Existenz des Ganzen begreifen.“*

* Brief vom 24. Oktober 1979, abgedruckt in: Die Zeit 52 / 1979