Die rote Linie

Seit dem Eintritt von Großbritannien in den Krimkrieg 1854 unterliegen militärische Konflikte der öffentlichen Kontrolle, und damit dem Gerangel zwischen wahrheitsverpflichteter Beschreibung und propagandistisch eingefärbter Erzählung. William Howard Russell berichtete als erster offizieller Kriegsreporter von den Kampfhandlungen in Briefen an den Verleger der Times, so dass ein großes Leserpublikum, unter ihm der fleißig exzerpierende Friedrich Engels*, Zeugen wurden von anschaulich geschilderten Schlachtendramen. Russells Findigkeit, sich Reittiere zu beschaffen, und der Mut, an die Frontlinien heranzutreten, erlaubten ihm, die Auseinandersetzungen zwischen den Armeen photographisch präzise zu schildern und machten schließlich seine detailgenauen Zeitungsartikel von verlustreichen Vorstößen der britischen Generäle für die Regierung in London zu einem peinsamen politischen Ärgernis. In unmittelbarer Folge der Publikationen stürzte das Kabinett des Premierministers Aberdeen. Eine zweite Front war eröffnet: die mediale. Wir verdanken Russell sprachmächtige Redewendungen wie: „Er bewegt sich wie einer mit Blut an den Händen“, oder die Bemerkung über die „dünne rote Linie“, die nicht überschritten wurde, weil das 93. schottische Regiment in roten Uniformen trotz Unterzahl die Verteidigungslinie wider die Russen aufrecht erhielt. Allerdings waren seine Presseveröffentlichungen auch der Anlass, die Militärzensur einzuführen bis hin zum embedded journalism. Der aktuelle Krim-Konflikt bedient sich dieser Mittel in Perfektion, wenn er Bilder und Worte nutzt, um die eigene Deutungsmacht zu etablieren. Man kann hoffen, dass an der Stelle, wo der Kalte Krieg zwischen Ost und West wiederkehrt, auch dessen Beschränkung auf Manipulation und Propagandafeldzüge, Drohungen oder Wirtschaftssanktionen eingehalten wird und die „Rote Linie“ als Metapher der letzten Grenze absolut gewahrt bleibt, hinter der nur noch „menschliches Barbarentum“ (auch ein Sprachbild von Russell) vorherrscht.

* Karl Marx / Friedrich Engels, Gesamtausgabe (MEGA), 4. Abt., Bd. 12, 1054