Die Welt als Lüge und Vorstellung

Dass wir in ein postfaktisches Zeitalter übergegangen sind, in dem die Tatsachenwahrheit nicht als letztes, verlässliches Kriterium des politischen Handelns selbstverständlich anerkannt wird, diese Feststellung gilt nicht erst, seit ein amerikanischer Präsident partout nicht einzusehen vermag, dass er abgewählt wurde. „Postfaktisch“ heißt die Gegenwart, nicht weil öffentlich und institutionell gelogen wird. Das gehört seit alters zum „guten Ton“ in der Politik. Vielmehr verblüfft, wie unfähig jene anderen zu sein scheinen, Wirklichkeit entgegenzusetzen mit Hinweis auf das, was ist und gilt. Verschwörungstheorien, dreiste Räuberpistolen, wieder und wieder behauptete Absurditäten, sie sind offenkundig nicht nur interessanter, sondern vor allem eingängiger. Die Lüge gewinnt die Herrschaft über die Realität durch ihre Einfachheit, der kaum eine Referenz auf komplexe Wahrheit gewachsen ist. Es eignet der Ehrlichkeit eine Schwäche und Blässe, gegen die aufzutreten Hinterlist und Quertreibereien, Verschlagenheit und Arglist leichtes Spiel haben. Hannah Arendt schon hat sich dieser Gefährdung unseres Weltverhältnisses und Wirklichkeitsverständnisses in etlichen Texten gewidmet. „Denken, mit Wahrheit befasst – und Wahrheit zwingt –, und Handeln, das frei ist. Konflikt.“* So notiert sie in ihrem „Denktagebuch“. Nur dass dieser Widerstreit nicht in der großen Differenz zwischen der Sphäre des Geistes und der politischen Realität begründet liegt, hier die Sehnsucht nach Eindeutigkeit, dort die Notwendigkeit von Pluralität. Sondern in deren Verwandtschaft: Beide wollen Welt gestalten und verändern. Das wird durch die Lüge noch gesteigert. „Die bewußte Leugnung der Tatsachen – die Fähigkeit zu lügen – und das Vermögen, die Wirklichkeit zu verändern – die Fähigkeit zu handeln –, hängen zusammen; sie verdanken ihr Dasein denselben Quellen: der Einbildungskraft.“** Zwischen der Lüge und der Politik gibt es eine Verwandtschaft, die dieser nicht lieb sein kann, und jener so ungeheuerlich wie attraktiv erscheint.

* Hannah Arendt, Denktagebuch 1950 bis 1973, 655.
** Dies., Die Lüge in der Politik, 323f.