Ehrlichkeit oder Anstand

„Die einzige Art, gegen die Pest zu kämpfen, ist die Ehrlichkeit.“* So steht es in der deutschen Übersetzung des Schulklassikers „La peste“ von Albert Camus. In der Originalfassung** lautet der Satz des Arztes Rieux aber: „ … la seule façon de lutter contre la peste, c’est l’honnêteté.“ Honnêteté, was meint das? In der Tat: Ehrlichkeit, allerdings auch Anstand oder Redlichkeit. Und diese Bedeutung, so legt es der Kontext nahe, scheint plausibler zu sein. Das Gespräch zwischen dem Journalisten Rambert und seinen beiden Gästen endet mit einem pragmatischen Signal des Aufbruchs: „Wir müssen weiter, … wir haben zu tun.“ Es ist dieses Zeichen zum Handeln, das den Gastgeber tags drauf veranlasst, seine Dienste anzubieten, so lang die Seuche wütet. Nicht Ehrlichkeit – Redlichkeit indes ist die Haltung, mit der man wider eine Epidemie vorgeht. Bei ihr handelt es sich um jene Art des Redens, die der Wirklichkeit Respekt zollt, die nicht täuscht oder sich selbst betrügt, die um Klarheit ringt und Differenziertheit sucht, kurz: um die Lauterkeit in den Worten, welche sich nicht zuletzt im Wissen ausdrückt, dass Worte von Zeit zu Zeit nicht genügen. Das soll die einzige Weise sein, mit der weltumspannenden Krankheit umzugehen? Zumindest wenn Redlichkeit verstanden wird als letzte Anerkenntnis von Realitäten, zu der freilich nicht nur die Beachtung steigender Fallzahlen gehört, sondern jenseits des Notwendigen auch die entschlossene Arbeit an dem, was möglich ist. Redlichkeit ist das Talent, die Hoffnung auf Besserung belastbar zu machen.

* Die Pest, 134 (Übersetzung Guido G. Meister)
** La peste (Ed. Gallimard), 153