Fass! Mich! Nicht! An!

Gesten der Abwehr bestimmen den Alltag. Statt sich zur Begrüßung die Hand zu reichen, strecken Menschen derzeit die Hände aus wie Schutzschilde zum Zeichen der Ablehnung von gewohnten Formen der Freundlichkeit. Auf Abstand gegangen soll gleichwohl in reduzierter Zugewandtheit die Begegnung gelingen; man scherzt über den Zwang zur Distanz, deutet Umarmungen an, entgegnet verlegen ein „Besser nicht“. Kontakte, von denen man in Phasen der Vernetzung nicht genug bekommen konnte, sind potentiell kontaminiert. Berühren und Begreifen, die in der Sprache im übertragenen Sinn Fähigkeiten der Seele und des Geistes bezeichnen, verlieren ihren faktischen sinnlichen Gehalt. Ob wirklich das Virus die Wende zur virtuellen Welt bringt, die Diagnose einer Krankheit die Digitalisierung beschleunigt? In den Texten des Testaments findet sich, lateinisch gewendet, das berühmte Noli me tangere, das übersetzt den Widerstand des Auferstandenen gegen die Betastung benennt, der Bedeutung nach aber heißt: Halte mich nicht auf. Den Satz bekommt Maria Magdalena zu hören, die erste Zeugin des Ostergeschehens (Joh. 20, 17), mit der Begründung, es fehle noch die letzte Bewegung, die Rückkehr zum Vater. Derselbe Evangelist erzählt wenig später allerdings auch vom Zweifler Thomas, der seine Finger in die Wunde legen durfte, um sich sinnfällig vom Wunder zu überzeugen. Beide Geschichten behandeln die Frage, ob durch die Körperlichkeit die Wahrheit des Unwahrscheinlichen zu ermitteln ist; beide behandeln sie unterschiedlich. Aber was erfährt Maria Magdalena, die nicht anfassen darf, anderes als Thomas, der berührt? In der Zelle des Florentiner Klosters San Marco hängt die Darstellung der Szene zwischen der Frau und dem Weltenerlöser, die ihr Fra Angelico gegeben hat. Man sieht zwei Gesichter, die einander hingebungsvoll anschauen, ohne auf Tuchfühlung zu gehen. Da fehlt nichts. Und doch: „Der Körper weiß Dinge, die wir nicht kennen.“ Braucht es also mehr als den Anblick? Paul Valéry setzt den Gedanken fort: „Und wir wissen Dinge, die er nicht kennt.“* Man könnte ergänzen: Gerade weil wir die unmittelbare Körperlichkeit ausgeschaltet haben (was von den Anthropologen stets als eine „Leistung“ des Menschen herausgestrichen wird). Es ist zu vermuten, dass, wie in jedem Verzicht, beides geschieht in der Abwehr des Anfassens: die Entdeckung, wie leicht sich auf andere Weise ergänzen lässt, was wir uns versagen, und die Erfahrung, wie sehr wir vermissen, was wir für den langen Augenblick einer weltumspannenden Infektion unterlassen. Und: dass eine Berührung ohne Geist arm ist, und ein Geist, der nicht berührt, flach.

* Werke 5, 356

Fra Angelico, Noli me tangere, Fresko, Florenz