Fingerzeig

Bei den selten gewordenen Auftritten vor einem Auditorium, nicht zuletzt im Wahlkampf, sticht – im gar nicht nur übertragenen Sinn – eine Geste heraus: Vom Podium aus, oder auf dem Weg dorthin, zeigt der Protagonist ins Publikum, als habe er in der Masse jemanden erkannt, den er so begrüßt, als Einzelnen unter den Vielen. Damit die Vielen sehen, dass er viel sieht, jeden Einzelnen. Es soll ein Zeichen der Verbundenheit mit den Zuhörern sein, ist aber inzwischen zur willkürlichen Gebärde geworden, ja zur Marotte einiger Redner, die alles mögliche bedeutet, irgendwas zwischen überraschtem Wiedererkennen, Führungsstärke, Anspruch und der moralischen Überheblichkeit, die dem Zeigefinger stets anhaftet. Vilém Flusser hat in seinem „Versuch einer Phänomenologie“ die Geste „als eine Bewegung des Körpers oder eines mit ihm verbundenen Werkzeugs“ aufgefasst, „für die es keine zufriedenstellende Kausalerklärung gibt“.* Man müsse sie stets lesen lernen in der alltäglichen Situation, in der sie ihren Platz gefunden hat. Nur dass ein leerer Wink, der sich von jedem Sinn abgelöst hat, mit der Zeit seine Offenheit für Interpretationen verliert und bloß als hohler Fingerzeig allein die drei Finger in eine stärkere Aufmerksamkeit rückt, die seit einem Wort des Politikers Gustav Heinemann auf den zurückverweisen, von dem die bedeutungslose Attitüde ausgeht. Nichtig wirkt nicht mehr die Körperregung, deren Gerichtetheit nur noch billiger Schein ist, sondern der, der sie gebraucht, um etwas zu signalisieren, das ihm anders auszudrücken nicht mehr gelingt. Das Zeichen bekundet nicht nur nichts; es kommt auch aus dem Nichts.

* Gesten, 10