Flache und steile Kurven

Aus dem ersten Entwurf einer Gesellschaftstheorie, die vor fast fünfzig Jahren so konzipiert wurde: „Fragen wir zunächst unseren Zeitgeist. Wenn unsere Gesellschaft sich auf ein Symbol einigen müßte, so würde es vermutlich nicht der Kreis, nicht das Kreuz, nicht die Linie sein, sondern die schwindelerregende Exponentialkurve. Exponentialkurven, die zunehmend beschleunigte Zunahmen von was auch immer ausdrücken, symbolisieren gegenwärtig die Einheit von Wunsch und Krisenerwartung.“ Es liege auf der Hand, „die Zeichen der Zeit als Symptome der Überforderung durch Komplexität zu deuten“*, setzt der Autor, Niklas Luhmann, in seinem Typoskript fort. Und man könnte anschließen: Wenn unsere Welt sich auf einen Begriff einigen müsste, der ihren Zeitgeist präzise erfasst, so ist es: diese Überforderung (durch sich selbst). – Der Theologe wird einwenden wollen, dass es der Gesellschaft dann doch guttäte, sich des vorösterlichen Symbols des Kreuzes als eines Verweises auf die größtmögliche Entlastung vom Steigerungszwang wieder zu erinnern.

* Niklas Luhmann, Systemtheorie der Gesellschaft, 300