Fürchtet euch

Der Engelsgruß, mit dem die Geburt des Weltenerlösers den alten Geschichten nach angekündigt wird, setzt sich gegen jene Ungewissheit und Verunsicherung, die alles Wunderliche begleitet, solange es nicht eingeordnet werden kann in gewohnte Muster und alltägliche Regeln: Fürchtet euch nicht! Nur, was war wunderlicher als dieses Wort? Wovor hatten sich die so Angesprochenen gefürchtet, und sollen es fortan nicht mehr? Doch nicht vor einem schutzlosen Säugling, der gerade das Licht der Welt erblickt hat? So winzig wie der neue Erdenbürger, so wenig war den Zeugen bang vor ihm, die wohl ohnehin überwältigt schienen von Freude und Erleichterung, dass trotz der Unbill im Stall nichts schiefgegangen war bei der Niederkunft. Ist das also schräg erzählt? Nicht, wenn man den Satz liest als das traditionelle Gotteswort schlechthin, das erinnert an Zeiten, da es noch eine Menge zu fürchten gab, wenn der Höchste ins Geschehen eingriff. Die Mythologien sind voll solcher Schrecken. Die im Testament oft gewählte Formel wäre folglich zu nehmen als ein Näheversprechen, das sich als neu positioniert im Religionsreigen. Als Zumutung und Zusage eines Gottes, der sich nicht im Jenseits verortet wie sonst üblich oder gelegentlich blicken lässt, um den Irdischen zu demonstrieren, wozu er fähig ist, der nicht über allem steht und sich in die Steigerungslogik von Allmacht, Allgegenwart und Allwissenheit verstrickt, vor dem zu fürchten man demnach allen Anlass hätte. Sondern dessen wesentliches Merkmal ist, mit den Menschen zu sein, der auf Teilnahme und Teilgabe aus ist, ja der Angstfreiheit als Zeichen seiner Präsenz signalisiert. Das mag einer Welt, die sich inzwischen weit mehr vor sich selber fürchtet als vor Gott, nicht mehr recht einleuchten, weswegen die gewöhnliche amtliche Auslegung meist auch den psychologischen Aspekt betont, die weihnachtliche Furchtlosigkeit als Grundgefühl ins Tagesgeschehen zu übertragen. Nein, nein. Es gibt weiterhin gute Gründe, sich vor seinesgleichen zu erschrecken. Da sind allgemeine Vorsicht und Respekt mitunter vernünftig eingesetzt. Wir sind gerade mal wieder Experten in dieser Erfahrung geworden. Solche Expertise dennoch nicht gegen eine bestimmte Form der Entsicherung dauerhaft auszuspielen, darum geht es in der Legende aus Bethlehem: um den Glauben nämlich, dass die Lebendigkeit des Lebens stärker ist als alle Mutlosigkeit, Verzweiflung, Hemmung oder Trauer, Niedergeschlagenheit und Verstimmung. Von dieser Kraft des Lebendigen zehrt jede Geburt. Erst recht, wenn sie eine außergewöhnliche zu sein beansprucht, die des Gottessohns. Man nennt diese Entsicherung Vertrauen. Die Himmelswesen erscheinen im Bericht vom Krippenkind, indem sie das Vertrauen als Grundlage und Hauptmaß der Beziehung vorstellen, die zwischen Gott und Mensch künftig existiert. So etwas kann nur mit einer Offerte beginnen, die zeigt, was sie sagt: dass sich einer denen unbedingt ausliefert, die es nicht verdienen. Das ist kein Grund zur Furcht, aber könnte Anlass sein für Ehrfurcht.