Fundamentalismus

Die beiden großen Konflikte, die die westliche Welt derzeit in starken Bann ziehen, der unverhohlene Expansionswille Putins und der brutale Versuch, ein Kalifat zwischen Euphrat und Tigris zu errichten, dem alten Zweistromland, haben bei aller drängenden Gegenwärtigkeit einen ahistorischen Aspekt. Man unterschätze die symbolischen Anleihen nicht, die in der Verklärung eines überkommenen Reichsgedankens liegen. Hier wie dort nehmen sie ihre imperiale Kraft nicht zuletzt aus Religionsformen, die kein Interesse an ihrer eigenen Geschichtlichkeit entwickelt haben. Weder das orthodoxe Christentum in Russland noch der radikale Islam kennen eine Entwicklung ihrer Theologie. Sie halten sich traditionell für die letzte, unüberbotene und unüberbietbare Weise, die Welt zu denken, abgebildet im filioque-freien Glaubensbekenntnis* und den originalen Geboten des Koran. Deren Fortschritt besteht allein in der Errichtung eines rückwärtsgewandten politischen Zustands, der alle zur Anerkennung ihrer jeweiligen Dogmatik zwingt. Auf dem Weg dahin muss man nicht einmal einen Unterschied machen zwischen dem Zynismus eines kalt kalkulierenden Despoten und der heiligen Doktrin von Wahnsinnigen. Wer auch immer unter denen, die sich entsetzt fragen, wie solche Ideologien heute noch möglich sind, bei anderer Gelegenheit wieder den Relativismus einer sich selbst überfordernden Gesellschaft zu geißeln geneigt ist, der sollte vielleicht zunächst dankbar zur Kenntnis nehmen, dass es offensichtlich weitgehend noch nicht gelungen ist, dass einzelne Gruppen für alle das letzte Wort zu sprechen in Anspruch nehmen.

* Das Filioque ist die lateinische Formel aus dem Glaubensbekenntnis der römischen Kirche, in der die Geschichtlichkeit Gottes ihren Grund hat. Der Geist hat, so die trinitarische Wendung, seinen Ursprung in Vater und Sohn, also auch in dem, der für die Weltnähe des Ewigen steht. Bis heute ist dieses kleine Wort, das im elften Jahrhundert zur Abspaltung der orthodoxen Kirche führte, der entscheidende Trennungsgrund.