Gesichtshälfte

Der horizontale Schnitt durchs Antlitz, der in Zeiten der Ansteckungsgefahr nur noch den Blick freilässt, alles darunter aber von der Maske verdeckt, wirkt gegen das Symmetrieempfinden. Die Hälfte des Gesichts ist eben nicht identisch mit der Gesichtshälfte. Hier markiert sie schlicht eine quantitative Größe, dort bezeichnet sie eine Qualität, die einst als Profil in Verbrecherkarteien oder dem Scherenschnitt über den markanten Umriss einen genauen Identitätsnachweis erbrachte. Was sich nicht durch eine vorgestellte Spiegelung zur Vollständigkeit ergänzen lässt, bedarf kompensatorischer Phantasie. Die Augen sind gefordert, nicht nur zu sehen, sondern auch zu sprechen. So repräsentieren sie, anders als die Seitenansicht, die Person. In seiner Phänomenologie des Blicks schreibt Sartre: „Wir können nicht die Welt wahrnehmen und gleichzeitig einen auf uns fixierten Blick erfassen; es muß entweder das eine oder das andere sein. Wahrnehmen ist nämlich anblicken, und einen Blick erfassen ist nicht ein Blick-Ojekt in der Welt erfassen (außer, wenn dieser Blick nicht auf uns gerichtet ist), sondern Bewußtsein davon erlangen, angeblickt zu werden. Der Blick, den die Augen manifestieren, von welcher Art sie auch sein mögen, ist reiner Verweis auf mich selbst.“*

* Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts, 345