Götterfrevel

Mitten im schönsten Bürgerviertel müht sich seit vielen Jahrzehnten die traditionsreiche Buchhandlung um die hohe Qualität ihres ausgewählten Lesefutters. Sie hat trotz der Großhändler im Zentrum und im Netz überlebt, zurecht und gar nicht schlecht. Manchmal kommt man nur, um in den Regalen zu stöbern und sieht sich unversehens in ein Gespräch verwickelt über den jüngsten Szeneklatsch, die vielgerühmte Neuerscheinung, den wunderschön illustrierten Vogelband. Auch der stadtbekannte Philosoph ist diesmal dort, diskret parlierend mit der Hausherrin. Dennoch hört er, wie ein Kunde den Titel eines gern gelesenen Kollegen, den des denkenden Konkurrenten, bestellt und wirft unvermittelt den Kopf herum. „Irritiert?“ fragt der. „Interessiert“, antwortet der Philosoph und wendet sich rasch wieder ab, um nicht zu zeigen, dass er sich wie ein Tölpel ertappen ließ. Da spielte die Geste dem Gesagten einen Streich und verriet vergnügt, dass der Buchkäufer allzu grob gegen das erste Gebot der Philosophen verstoßen hatte, welches in guter Überlieferung lautet: Du sollst keine anderen Götter neben mir haben.