In der Rolle des Lebens

Wie schwer es dem Individuum fällt, ein anderes zu sein, wird deutlich, wenn das Leben gelegentlich verlangt, einen radikalen Rollenwechsel vorzunehmen. Der Liebhaber avanciert zum Ehemann, was nur unverbesserliche Romantiker als Fortschreibung, gar Steigerung seiner angestammten Aufgabe ansehen. Dem Schüler bietet der Lehrer nach Ende der Ausbildung die Freundschaft an, was mehr ist als die Öffnung eines ohnehin schon vorgehaltenen Gefühls. Der Kollege wird zum Chef befördert, was die nun Untergeordneten zweifeln lässt, ob er je einer der ihren war. Nicht selten geht mit dem Rollenwechsel eine Veränderung einher, die zur Verblüffung aller weit tiefer reicht als die erhoffte Intensitätszunahme einer ursprünglich gepflegten Beziehung. Jeder Schauspieler weiß, dass man Rollen nicht einfach annimmt, sondern in sie hineinwachsen muss. Ein höchst gewisses Indiz, wann das in Lebensverhältnissen angezeigt ist, mag die Befremdlichkeit sein, die in einer Partnerschaft plötzlich auftritt, weil an der Zeit ist, was noch nicht ausgesprochen und realisiert wurde. Oder die unfreiwillige Komik, die hinter einem langjährigen „Sie“ lauert, das so vertraut ist, dass es fast wie ein „Du“ klingt. Mit der Änderung des Beziehungsstatus geht allerdings oft auch einher, was der Revolutionär der modernen Dichtung, Arthur Rimbaud, mit seiner berühmten Formel „Ich ist ein anderer“* allgemein anzeigte: dass nicht nur Naheliegendes nach neuer Verlässlichkeit sucht, sondern dies nur kann, weil selbst das Nächstliegende wesentlich unzuverlässig ist.

* „Je est un autre.“ – Brief an Paul Demeny vom 15. Mai 1871