In flagranti

Aus dem noch ungeschriebenen Groschenroman:

Zehn Minuten schon saß neben ihr jener wortkarge Fremde, die Hände verkrampft versteckt in den Hosentaschen, den sie wider ihre streng anerzogene Gewohnheit mitgenommen hatte. Das einst schützende elterliche Gebot „Geh nicht mit Leuten mit, die du nicht kennst!“ hatte sie später für sich so ausgelegt, dass sie nie anhielt, wenn am Straßenrand jemand stand, den Daumen ausgestreckt nach einer Mitfahrgelegenheit. Mögen doch andere ihn mitnehmen, dachte sie kühl. Früher hatte sie sich wenigstens noch förmlich mit einem Achselzucken hinterm Lenkrad entschuldigt, doch inzwischen beschleunigte sie kurz das Tempo, wenn wieder mal jemand um die kleine Hilfe bat. Was also machte der Mann auf ihrem Beifahrersitz?
Er war ihr über Kilometer mit seinem Truck gefolgt, immer wieder die Lichthupe aufblendend, als ob er sie überholen wollte. Da auf der Landstraße dazu kaum Gelegenheit war, fuhr sie in die Tankstelle, um ihn vorbeiziehen zu lassen. Doch der Lastwagen bog auch ab und kam auf dem Parkplatz zum Stehen. „Können Sie mich bitte mitnehmen, dringend, bitte. Sie kommen doch auch aus der Stadt. Ihr Kennzeichen verrät es?“ hatte er sie angesprochen, so fordernd und zugleich bedürftig, dass sie sich für das eine Mal erweichen ließ und von ihrem Prinzip absah. Er wollte nach Hause, mit dem langen Wagen wäre das aber zu auffällig, gab er ihr eine dürftige Erklärung. Also war sie gewendet und fuhr die Strecke zurück.
Nun unterbrach sie die Stille, die sich im Inneren ihres Volvo Kombi schwer lastend ausgebreitet hatte. Warum er denn so eilig nach Hause müsse, fragte sie ihn. „Ich habe gerade einen Anruf bekommen“, druckste der Fremde. „Man hat mir mitgeteilt, dass ich meine Frau in flagranti mit einem anderen erwischen würde, wenn ich umdrehte. Bin gerade vor einer halben Stunde erst losgefahren. Ich hatte ja schon immer so einen Verdacht. Aber da kann ich ja nicht mit dem Lkw vorfahren.“ Jetzt wollte sie den Anhalter nur noch loswerden, so schnell es ging. „Wo darf ich Sie denn absetzen?“ Der Fremde antwortete nicht. Starr blickte er durch die Windschutzscheibe, seine Gedanken schienen längst am Zielort zu sein. „Hören Sie“, versuchte sie es eindringlicher. „Ich muss dann weiter. Wenn Sie mir nicht sagen, wohin ich Sie bringen soll, setze ich Sie an der nächsten Ecke ab.“ „Ok“, murmelte der Fremde nur. Sie hielt sofort an, bis zur Weggabelung waren es noch ein paar hundert Meter. Er stieg aus. Kein „Danke“, keinen Gruß. Stumm trollte er sich und verschwand in der Dämmerung eines lauen Frühlingsabends. Sie ließ den Motor kurz aufheulen, gab Gas und mit einem heftigen Satz nach vorn eilte sie erleichtert davon.
Ihr Freund wohnte in der Nähe; sie hatte sich von ihm das Auto ausgeliehen für einen Trip ins Bergische Land, das erste große Abiturstreffen zwanzig Jahre nach dem Abschluss. Er würde sich gewiss freuen, wenn sie noch einmal kurz reinschaute. Als sie in die Sackgasse bog, sah sie schon das erleuchtete Fenster seines Arbeitszimmers und ein Hauch von Lust stieg in ihr auf. Ein romantischer Abend statt des gequälten Wiedersehens mit den Schulfreundinnen? Sie war immer noch in ihn verliebt wie nach dem ersten echten Rendezvous. Leise schloss sie die Haustür auf, auf Zehenspitzen wollte sie ihn überraschen. Alles war ihr vertraut, der würzige Geruch des jüngst nachgeölten Parketts, die kleine Hochzeitstruhe in der Diele, seine Sneakers, die er stets parallel sortiert auf die Ablage stellte. Auch seine flüsternde, beschwörende Stimme, die sich aus dem oberen Stock leise, aber deutlich vernehmen ließ. Mit wem sprach er, vor allem so liebevoll, ja fast liebkosend? Für den Moment zögerte sie, ihren Fuß auf die erste Treppenstufe zu setzen. Angestrengt lauschte sie seinem Flüsterton. Und plötzlich schoss ihr selber ein Wort durch den Kopf, das sie lang nicht mehr gehört hatte, bis sie es vorhin während des kurzen Gesprächs mit dem Fremden verstörend aufnahm: in flagranti …