Jetzt nur nicht sentimental werden

Man mag es nicht entscheiden müssen, ob es ein Vorteil zu nennen ist, wenn mit zunehmendem Alter auch die Erfahrung wächst. Ein zweifelhaftes Bild gibt sie jedenfalls dort ab, wo ihr nicht in gleichem Maße sich Lebensklugheit beigesellt hat. Denn nur erfahren, wird der Mensch leicht sentimental. So wie er vielleicht einst die Zukunft verklärt hat, redet er sich dann mit fortgeschrittenen Lebensjahren die Vergangenheit schön – es sei denn, ein geläuterter Verstand gebietet ihm Einhalt, indem er ihn mit einer Überfülle an Gegenwart beschäftigt. Man sollte älteren Geburtstagskindern nicht so viel Zukunft wünschen oder die Erinnerungen heraufbeschwören, als sie vielmehr mit ihrer eigenen Zeitgenossenschaft und deren Aufgaben konfrontieren. In dem Maße, wie die Einsicht vorherrscht, dass früher nicht alles besser war, bleiben die Kräfte lebendig, es hinfort besser zu machen. Der weltweise Thomas Carlyle schrieb schon: „Ach, der unfruchtbarste von allen Sterblichen ist der sentimentale … Liegt er nicht hier als eine immerwährende Lektion der Verzweiflung und ein Musterbild siecher, kränklicher Impotenz?“*

*Thomas Carlyle, Arbeiten und nicht verzweifeln, 151