Kein Raum in der Herberge

Die Weihnachtslegende, die den Stall als Geburtsstätte des Weltenerlösers bestimmt und den Augenblick seiner Gegenwart als erfüllt verheißt, berichtet von einem raumlosen Ort und einem zeitlosen Ereignis – auch wenn der Chronist Lukas alle Register der antiken Geschichtsschreibung zieht, um der Erscheinung des Gottessohns historische Plausibilität zu geben. Der Kernsatz lautet: „ … denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge.“ (Luk 2,7) Von der Utopie entlehnt der Erzähler Vorkommnisse, die das Vorstellungsvermögen sprengen, wie die Engel, nur dass er sie einordnet in die Weltgeschichte und lokalisiert im Dorfgeschehen von Bethlehem. Michel Foucault nennt solche Szenarien Heterotopien, „die vollkommen anderen Räume“*, und schreibt ihnen die Aufgabe zu, eine Stelle zu sein, an der Menschen ihre Illusionen auslagern. Die Krippe könnte ein solch spezieller Ort sein. Doch als Lagerstätte für verkehrte Träume taugt die Botschaft des heiligen Textes nicht. Sie nutzt die Verweigerung eines geeigneten Platzes für die Niederkunft erzählerisch, um nüchtern zu zeigen, dass es nichts gibt, was dem wertvollsten aller Geschenke an die Welt angemessen wäre. Keine noch so einladende Geste reicht. Nicht zu genügen ist die säkulare Bedeutung dessen, was theologisch Gnade heißt. „Wie soll ich dich empfangen?“ fragt der Dichter des Kirchenlieds Paul Gerhardt. Darauf gibt es sinnvoll keine andere Erwiderung als das schweigende, vielleicht demütige und dankbare Staunen, dass der sonst alles entscheidende Unterschied zwischen groß und klein vor dem menschlichen Gott nichts gilt, der nicht geringschätzt, sondern das Geringe schätzt.

* Die Heterotopien. Der utopische Körper, 11