Kippfigur

Die großen Gefühle sind wie Vexierbilder. In ihnen steckt mindestens eine zweite Empfindung, die sich erkennen lässt, wenn man den Blickwinkel wechselt, mit dem man auf sie schaut. Hat man den einen Affekt genau gesehen, meint, ihn klar erfasst zu haben, trübt sich die Wahrnehmung ein: Durch ihn hindurch scheint nicht selten die gegenteilige Regung. So mancher abgrundtiefe Hass verbirgt geschickt die Verzweiflung, die sich in ihm ausdrückt und lässt nach langem Studium auch noch die unerfüllte Liebe entdecken, aus der er hervorquillt. Ist nicht der Neid eine  verbogene Form der Bewunderung? Und die Liebe heimliche Angst vor dem Alleinsein und der Zweisamkeit zugleich? Wer soll hier entscheiden? Es gehört zur Perfektion des Versteckspiels, dass sich weder dem Beobachter noch dem von seiner Leidenschaft Ergriffenen eindeutig erschließt, welche  Stimmung vorherrscht, ja in den meisten Fällen nicht einmal, dass da mehr im Gange ist als nur das Offenkundige. Man müsste eine reine Rhetorik der bedeutenden Emotionen entwickeln können, die alle Kunstgriffe, Tropen und Figuren einer Sprache des Innenlebens enthält: die Metaphern der Seele, die Paradoxien der menschlichen Beziehungen, die Ironie des ehrlichen Geständnisses, den Euphemismus hässlicher Sentiments …