Lass uns Freunde bleiben

Nie ist eine Freundschaft weniger ernstgenommen als in den Vor- und Nachphasen einer Liebe. Nur selten taugt die eine zum Steigbügelhalter der verwandten Regung, die dennoch, vielleicht der großen Nähe wegen, ihm so fremd ist. Der Liebe fehlt die Illusionslosigkeit der Freundschaft; die Freundschaft versteht den Absolutismus des Liebesglücks nicht. Lass uns Freunde bleiben: das ist ein Verlegenheitssatz, der aus der Zwickmühle zwischen Gewissen und Pflicht stammt und meint, dem Geliebten etwas schuldig zu sein, das sich nicht mehr geben lässt. Er wird der Liebe nicht gerecht und entehrt die Freundschaft zum Ort für die Verwertung von Gefühlsresten. Keine hat das so scharf analysiert wie die junge Marcelle Sauvageot, die in Briefen an ihren früheren Verlobten aus dem Jahr 1930 das leidenschaftliche Dokument einer gescheiterten Liebe hinterließ: „Unsere Freundschaft wird in Zukunft etwas sehr Hübsches sein; wir werden uns Ansichtskarten von unseren Reisen und zu Neujahr Pralinen schicken. Wir werden uns gegenseitig besuchen, wir werden einander von unseren Plänen erzählen, wenn diese dabei sind, sich zu verwirklichen, um den anderen ein wenig zu kränken und im Falle eines Scheiterns sein Mitleid nicht erdulden zu müssen; wir werden vorgeben zu sein, was wir zu sein glauben, und nicht, was wir sind; wir werden einander oft ,Danke‘ und ,Verzeihen Sie‘ sagen, freundliche Worte, die man so dahinsagt. Wir werden Freunde sein. Glauben Sie, daß das nötig ist?“*

* Marcelle Sauvageot, Fast ganz die Deine, 20