Lippen lesen

Der Fahrgast, kaum dass er seinen Sitzplatz eingenommen hat, befreit das frisch gekaufte Buch von der Folie und schlägt es auf. Schon beim Lesen der ersten Sätze hellt sich sein Gesicht auf. Ein feines Lächeln zieht über die Lippen, das sich nach einem kurzen Anflug von Ernst zum Lachen aufschwingt. Die Augen rollen, wieder einen Augenblick später, ein leichtes Stirnrunzeln verschärft sich zu tiefen Furchen. Dann folgt Ausdruckslosigkeit bis zum Umblättern. Mit der neuen Seite ergreift den Reisenden gespannte Aufmerksamkeit, die sich nicht einmal ablenken lässt vom einsetzenden Telefonat der Abteilnachbarin. Ein Roman, geschrieben in die Miene eines Bücherfreunds. Das Lesen in dessen Antlitz ist mindestens so interessant wie das Lesen dessen, was er liest.