Mach dich frei

Es ist einer der beklemmendsten Sätze beim Arzt, wenn die Sprechstundenhilfe im Behandlungszimmer sagt: „Sie können sich schon einmal frei machen. Der Doktor kommt gleich.“ Da sitzt man dann halbnackt, friert leicht und wartet lange Minuten, bis endlich der unbekannte Fachmediziner, kurz grüßend, zur schnellen Begutachtung in den Raum tritt. Alles ist auf Effizienz getrimmt, die Diagnose oft nicht einmal der genauen Anschauung entnommen, sondern dem beiläufigen Blick auf den Bildschirm und der dort vorgeschriebenen Anamneseschnipsel. Wo sonst das Ausziehen vor dem Anderen das intime Spiel reizvoll bereichert oder, in der Deformation der Hingabe zur Erniedrigung, einseitige körperliche Blöße die Machtdemonstration in einem Verhör kalt darstellt, hat die lapidare Aufforderung der Assistenz in der Arztpraxis, sich freizumachen, von beiden Situationen unangenehm viel übernommen: aus der Liebesverstrickung das Ungeschützte, ohne die begleitende Zartheit, aus der Verachtungsszene die Demütigung, ohne die Tendenz zur Vernichtung. Mit Freimachen hat das so wenig zu tun, wie Nacktheit eine Qualität von Wahrheit repräsentiert. Vielmehr ist das Sollen, vorgetragen von der Vorzimmerdame, so bedrängend und bedrückend, dass das Wollen sich in dem Moment nur noch als Widerwille zeigt und das Können sich in Umständlichkeit verwandelt hat. Freiheit wäre indes jenes, hier verlorene, Gleichgewicht zwischen dem Anspruch, dem Bedürfnis und der Fähigkeit, beides zu erfüllen, die schönste Entsprechung von Sollen, Wollen und Können.