Mein Lieber

In der Anrede, die den digitalen Formen des Briefersatzes vorangestellt ist, finden sich kaum noch die beiden überkommenen „Lieber Herr …“ oder „Sehr geehrter Herr …“, je nach den Graden der Vertrautheit, die das Verhältnis von Adressat und Absender auszeichnete. Stattdessen heißt es plump „Hallo …“ oder verkrampft „Guten Tag, Herr …“, auch wenn es längst Abend über dem Schreiben geworden ist. Ob das schöner klingt, ehrlicher ist, weniger gestelzt? So wie die populären „Lieben Grüße“, die nicht selten als dürres Akronym angefügt sind, keine versteckte Liebeserklärung bedeuten, stellt das „Geehrter“ den größten Schurken zwar ins Unrecht, gibt aber doch keine Ehrenerklärung ab für den Angesprochenen. Was hielten die beiden Wörter „Mein Lieber“, je nach Betonung, für eine Fülle an Interpretationsnuancen bereit, von der Herzenswärme bis zur scharfen Drohung, manchmal beides zugleich, wenn der ältere Kollege einst jovial so das Gespräch aufnahm.