Menschen im Café

Er saß im schönsten Art déco-Kaffeehaus der Stadt, stilecht auf einem der harten Bugholz-Stühle seinem Gesprächspartner zugewandt. Immer wieder aber irrten seine Blicke ab, magisch angezogen von einem Pärchen, das im hinteren Raumteil seinen Platz gefunden hatte und ohne Scheu sich innig in den Armen lag, sich leidenschaftlich küsste, bis die Speichelfäden vom Kinn tropften, als hätte einer vom anderen zu hastig getrunken. Es verstörte ihn, dass er nicht hinschauen und nicht weggucken konnte gleichermaßen. Vor allem aber, dass er sich seinem Gegenüber mit der gebotenen Aufmerksamkeit nicht zuwandte. Widerwillig ließ er sich hineinziehen in eine intime Geschichte, die ihn nichts anging, der er aber die phantasiereichsten Varianten nebenher abgewann: eine liaison fatale, eine amour fou, die noch taufrisch war, vielleicht gerade erst einander beglückt gestanden, und die deswegen den Raum für ihre heißen privatissima noch suchen musste. Er war unfreiwillig Zeuge geworden, wie überwältigend die Liebe sein kann, so ungehemmt auf sich konzentriert, dass sie das Publikum nicht kümmert, dass ihr natürliches Bedürfnis nach Diskretion für den Augenblick tiefster Zuneigung ausgeblendet war. Nein, er war nicht Zeuge, obwohl er alles sah. Er ertappte sich als Voyeur. Das war es, was ihn eigentlich befremdete. Er, dem das Private heilig ist, kümmerte sich um die Intimitäten anderer, obwohl er sich um nichts weniger bemühen wollte. Der Zeuge bekundet die Wahrheit des Äußeren; der Voyeur dringt auf unwahre Weise ins Innere. Kurz schüttelte er sich ob dieses lästigen Gedankens. Und wandte sich seinem Tischnachbarn zu. „Wo waren wir stehengeblieben?“