Moralinsäure

Zur Nüchternheit einer Moral gehört, das Fehlverhalten von Menschen so lang zu bedenken, bis es zurückgeführt werden kann auf ein einziges Motiv: Angst. Sie ist es, die unser Tun und Lassen vergiftet, die dem Widerwärtigen Kraft, dem Missgünstigen Ausdauer, der Ablehnung Phantasie verleiht. Aber kann man für die eigene Angst verantwortlich gemacht werden? Wohl nicht – allerdings für ihre Folgen. Vielleicht entziehen sich die Beweggründe unseres Handelns überhaupt einer moralischen Zuschreibung, weil das Ich, das allein einstehen müsste für sein Wirken, eben nicht leicht zu fassen ist. War ich’s? Oder es? Und wenn, wer von uns? Wer nicht eindeutig auf diese Fragen zu antworten vermag – und das sind wir alle –, verlangt heimlich nach einer höheren Kategorie als Verantwortung. Gibt es die? Am Ende jeder Moral steht das Problem, ob Versöhnung zwischen Menschen eher zu erreichen ist, indem man sie als verantwortlich identifiziert und bestraft, oder durch Vergebung. Aber setzt nicht diese jenes voraus? Beide Formen der Erwiderung verlangen zumindest, dass sich Freiheit selber ernstnimmt.