Vor der Zeit des Virus hieß die Frage: Was muss ich an meiner Arbeitsweise ändern, damit das Leben nicht zu kurz kommt? Mit steigender Zahl der Infektionen lautet die Frage: Wie stark muss ich das Leben einschränken, um weiter arbeiten zu können? Das ist die neue Formel für eine vernünftige Work-Life-Balance.
Geist und Geld
Wer aus Geist Geld machen will, muss das Einfachste so verpacken, als sei es das Kostbarste. Was manchmal sogar stimmt. Der umgekehrte Weg, das Komplizierteste schlicht auszudrücken, ist notwendige Übung und beste Voraussetzung.
Nicht wie du
Jede Liebe erschrickt früher oder später über die Einsicht: Ich bin nicht wie du. Sie hält sich, wenn aus dem Ansatz zum Vorwurf schnell ein „Zum Glück!“ erwächst. Das Wir entsteht in dem Maße, wie der Schmerz der Differenz als Preis akzeptiert wird für den größeren Reichtum des Lebens.
Team, Arbeit
Die meisten Führungsaufgaben stellen sich gar nicht erst, wenn man von Anfang an geachtet hat auf die Zusammenstellung einer Arbeitsgemeinschaft, die eine schöpferische Eigendynamik entwickelt. Mehr als über Methoden der Kommunikation oder Varianten des Machtspiels sollte ein Teamleiter verstehen von der tiefen Beziehung zwischen Mensch und Raum. Wenn nur jeder an seinem Ort auch seinen rechten Platz gefunden hat, darf man darauf setzen, dass sich Sinn und Eigensinn im Handeln zu einer der Sache angemessenen Bewegung ausbilden.
Die perfekte Mischung
Ein gelungener Cocktail aus widersprüchlichen Eigenschaften: Perfektion, die sich nicht mit der Strenge verbündet, sondern sich in Nachsicht und Milde ausdrückt; der ernste Hallodri; der Eitle, der nicht nur sich, sondern vor allem die Menschen liebt; Handwerkskunst und Intellektualität; Kraft, Einfühlsamkeit, Entschlossenheit; das Zögern, das die Entschiedenheit vertieft; scheue Schönheit; reflektierte Naivität; Größe, die sich nicht in der Überbietung gefunden hat, sondern erwachsen ist aus der Zuwendung …
Sachen gibt‘s
Es gibt Sachen, denen man nur so gerecht wird, dass man sie geflissentlich übersieht.
Planlos
Wie werden wir uns treffen, wenn im Winter die Temperaturen so gesunken sind, dass es für ein Abendessen auf der Terrasse zu kalt sein wird?
Wann gehen wir mal wieder entspannt ins Kino? Oder gespannt ins Konzert? Oder ins Schauspiel, ohne angespannt zu sein? Oder zum Fußball? Auch wenn die Opernhäuser und Stadien ihre Tore ein wenig geöffnet haben …
Was planst du für das nächste Semester, wenn nicht klar ist, ob ein Präsenzunterricht dauerhaft möglich sein wird?
Arbeitest du von Zuhause aus, oder gehst du wieder täglich ins Büro?
Fährst du noch Zug, wenn die Abteile gut besetzt sind?
Glaubst du, dass dein Beruf das nächste Jahr überlebt? In welchem Job siehst du dich stattdessen?
Woher nimmst du die Kraft, auf alle Einschränkungen zu achten und die Lust am selbstverständlichen Umgang mit anderen nicht zu verlieren?
Feierst du noch Geburtstage oder Weihnachten mit der Großfamilie und Freunden?
Wann hast du dir das letzte Mal Kleidung im Modehaus gekauft?
Und einen geschätzten Menschen umarmt, dem du zufällig begegnet bist?
Eine Perspektive zu haben bedeutet, dass die Räume der Zukunft trotz der Pläne in jedem Fall größer erscheinen als die der Gegenwart.
Anstandshalber
Das Schweigen, wenn Dummheit oder Beleidigung schreiend nach Erwiderung verlangen, gehört nicht zum guten Ton in der Konversation.
Aus die Maus
„Auserzählt“ ist eine Geschichte, die noch fortgesetzt wird, obwohl sie keinen mehr interessiert.
„Ausgelebt“ heißen Leidenschaften, die nicht verlorengegangen sind, aber keine Sucht mehr erzeugen.
„Ausgedacht“ kann eine Idee beschreiben, die so anspruchsvoll ist, dass sie wirklichkeitsfremd bleibt.
„Ausgegoren“ kennzeichnet einen Reifezustand, der anders genannt wird, wenn er erreicht ist, weil der Ausdruck nur mit vorangestelltem „Nicht“ gebraucht wird.
„Auserwählt“ markiert nicht den Abschluss einer Entscheidung, sondern zeichnet jene aus, die aus ihr hervorgegangen sind.
„Ausgegrenzt“ redet von denen, die nie die Gelegenheit hatten, beteiligt zu werden.
„Ausbedungen“ erinnert an den Augenblick, da eine Verhandlung fast gescheitert wäre.
Das Präfix „aus“ verweist nicht zwangsläufig auf finale Lagen, sondern nur auf die Besonderheiten einer Situation, durch die sie zur Ausnahme wird.
Stimmen der Zeit
Unter den Stimmen der Zeit, die mehr ein Gewirr darstellen, als sich in ihrer Vielfalt auszubilden, bringt sich die des Glaubens nur leise zu Gehör. Das mag an der Überraschungsfreiheit liegen, die den Sonntagsreden vieler Theologen eignet, weil sie von einer formelhaften Antwort her entwickelt werden, ist aber auch ein überlieferter Modus des Gottesworts selbst (1. Könige 19, 12). Zu dieser Zurückhaltung gehört allerdings nicht der Verzicht, sich zu äußern. Sie könnte sich vielmehr in der Gedankenschärfe und Kompromisslosigkeit, in der mit List und Härte öffentlich vorgetragenen Offenlegung jenes Weltorts zeigen, an dem Menschen ihre eigene Ratlosigkeit nur so zu formulieren wissen, dass sie des Trosts und der Erlösung bedürftig sind. Der nämlich liegt weit jenseits der Felder, auf denen Probleme gelöst und Fragen beschwichtigt werden können. Da hätte sich Dezenz in Demut verwandelt und die große Gebärde in die selbstbewusste Bitte. In welchem Medium hätte Platz, dass „alle Fragen offen“* bleiben, weil sich diese Unbestimmtheit nicht durchs Reden beheben lässt?
* Mit dieser Formel aus einem Stück von Bertolt Brecht (Der gute Mensch von Sezuan, Epilog – „Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen“ , Ausgewählte Werke in sechs Bänden, 2, 294) beendete Marcel Reich-Ranicki seine Moderationen des „Literarischen Quartetts“.
Hybrid
Das Zauberwort in Schwellenzeiten heißt „hybrid“. Weil das Alte nicht mehr recht taugt und das Neue noch nicht wirklich überzeugt, gelten Mischformen als Übergangslösung, die sich gern als moderne Technik oder ultimative (Lern-)Methode vorstellen, als Sache eigenen Rechts. Sie sind zwar mehr als das, was die Volksstimme „Nichts Halbes, nichts Ganzes“ nennt, aber haben ihre eigene Unentschiedenheit nicht überwunden. Die Kunst ist, aus beidem ein Drittes zu schaffen, das weder den Rückfall provoziert, noch den Fortschritt ungeduldig erwarten lässt, durch das die Erinnerung und die Sehnsucht gleichermaßen eliminiert sind. Die Wortstammähnlichkeit mit der Hybris mag das Hybride gemahnen, sich der eigenen Vorläufigkeit so bewusst zu werden, dass alle Anstrengung darauf gerichtet wird, sich selbst zu überwinden. Hybridfahrzeuge, Hybridunterricht, Hybridrasen, Hybridzigaretten – das ist selten das Beste aus zwei Welten. Sondern nichts als die zur selbstgefälligen Form aufgeblasene Verlegenheit, es noch nicht besser zu wissen.
Die Lebensgeister der Wissenschaft
Jene Wissenschaften, die auf die Frage in Verlegenheit geraten, worin der Erkenntnisfortschritt besteht in ihrem Fach, also Philosophie oder Kunst, Geschichte oder Kultur, nicht zuletzt die Theologie, leisten vor allen anderen eines: dass der Geist lebendig bleibt, wach und neugierig, kritisch und weit orientiert. Und schaffen so wenigstens die Voraussetzungen für das, was Innovationen und deren Halbwertszeit für die Entwicklung der Kenntnisse bedeuten.
Fingerzeig
Bei den selten gewordenen Auftritten vor einem Auditorium, nicht zuletzt im Wahlkampf, sticht – im gar nicht nur übertragenen Sinn – eine Geste heraus: Vom Podium aus, oder auf dem Weg dorthin, zeigt der Protagonist ins Publikum, als habe er in der Masse jemanden erkannt, den er so begrüßt, als Einzelnen unter den Vielen. Damit die Vielen sehen, dass er viel sieht, jeden Einzelnen. Es soll ein Zeichen der Verbundenheit mit den Zuhörern sein, ist aber inzwischen zur willkürlichen Gebärde geworden, ja zur Marotte einiger Redner, die alles mögliche bedeutet, irgendwas zwischen überraschtem Wiedererkennen, Führungsstärke, Anspruch und der moralischen Überheblichkeit, die dem Zeigefinger stets anhaftet. Vilém Flusser hat in seinem „Versuch einer Phänomenologie“ die Geste „als eine Bewegung des Körpers oder eines mit ihm verbundenen Werkzeugs“ aufgefasst, „für die es keine zufriedenstellende Kausalerklärung gibt“.* Man müsse sie stets lesen lernen in der alltäglichen Situation, in der sie ihren Platz gefunden hat. Nur dass ein leerer Wink, der sich von jedem Sinn abgelöst hat, mit der Zeit seine Offenheit für Interpretationen verliert und bloß als hohler Fingerzeig allein die drei Finger in eine stärkere Aufmerksamkeit rückt, die seit einem Wort des Politikers Gustav Heinemann auf den zurückverweisen, von dem die bedeutungslose Attitüde ausgeht. Nichtig wirkt nicht mehr die Körperregung, deren Gerichtetheit nur noch billiger Schein ist, sondern der, der sie gebraucht, um etwas zu signalisieren, das ihm anders auszudrücken nicht mehr gelingt. Das Zeichen bekundet nicht nur nichts; es kommt auch aus dem Nichts.
* Gesten, 10
Unterkühlt
So manche Coolness entpuppt sich bei näherer Betrachtung als Angst vor den unkontrollierten Formen der eigenen Leidenschaft.
Führungsaufgaben
Personen in Organisationen: das ist die wohl knappste Beschreibung dessen, was ein Unternehmen auszeichnet. Es besteht aus drei Dimensionen, wobei die dritte, die das kleine Wort „in“ markiert, wohl die schwierigste ist. Was hilft es, bestens beleumundete Führungskräfte einzusetzen, wenn sie nicht in die Struktur passen, die eine Firma sich gegeben hat. Und was bringt es, sich Arbeitsroutinen aufzuerlegen, die nicht den Menschen angemessen sind, mit denen es die Aufgaben zu erledigen gilt. Es gibt ein schlichtes Geheimnis in jeder gelingenden Führungsaktion: Individuen so zusammenzubringen, dass sie um eines größeren Ganzen willens Lust aufeinander haben, und Räume zu schaffen, die ihnen die Lust nicht nehmen, dieses Ziel gemeinsam zu erreichen. Nur, dass das nicht so einfach ist.
Die Wiederkehr des strategischen Denkens
Strategie ist die Methode des Denkens, die es wählt, wenn die Zeiten in hohem Maß ungewiss geworden sind. Mit ihr ersetzt es, was ihr abhanden gekommen ist an Fortschreibungen der aktuellen Situation. Jede Strategie muss mit der Gegenwart brechen, weil sie aus dem Übermorgen ihre Annahmen ableitet für das, was mittelbar kommen wird. Sie verbündet sich mit der Rhetorik nach dem Maß ihrer eigenen Kühnheit.
Das wohldosierte Gespräch
Wenig ist so schwer in einem Konflikt, in dem es ums Persönliche geht, wie bei der Sache zu bleiben. Und nichts so nötig.
Talsohle
Die Talsohle, die durchschritten sei, ist ein seltsam schiefes Bild. Dass es danach wieder bergauf geht, mag für Stimmungskurven oder die Wirtschaftsleistung ein gutes Zeichen sein. Doch jeder Wanderer weiß, dass der Leidensweg erst beginnt, wenn die Anhöhen den steilen Aufstieg verlangen und man sich wünscht, es würde noch so manche Talsohle auf einer Hochebene kommen, die man leichten Fußes durchschreiten kann, um sich zu erholen. Kurz, das Schlimmste kommt noch. Zur Darstellung von Lebenswegen taugt die Metapher der durchschrittenen Talsohle nicht, auch wenn im Gang der Dinge Steigerungen gern durch Steigung veranschaulicht werden.
Stadt und Land
Wenn auf dem Land das Wetter wechselt, vom Sonnenglanz ins Regengrau, so zeigt sich der Widerschein eines meteorologischen Tiefs in der Natur viel stärker als in der Metropole. Von der urbanen Wolkentristesse lenkt deren Hochhausarchitektur mit überraschenden Schattierungen in der Silhouette aufs Schönste ab, wohingegen Wiese und Acker sich in eine schlammige Einöde verwandeln. In der Stadt wird die Natur entlastet von der Verpflichtung, für Unterhaltung zu sorgen.
Wie Frechheit verliert
Unverfrorenheit, ob in Worten oder Taten, lässt sich nicht durch Worte, sondern nur über Taten beantworten. Und sei es, dass man weder etwas entgegnet noch handelt, sondern sie einfach ignoriert.
Diplomatisches Geschick
Diplomatisch heißt jenes Gespräch, das im stillschweigenden Einverständnis beginnt, einander nicht die Wahrheit zu sagen, damit nicht die Wahrheit ans Licht kommt, dass man einander nichts zu sagen hat. Das Reden macht kurz vor dem Übergang ins Handeln kehrt.
Cliquenwirtschaft
Das unterscheidet die öffentliche Kundgabe von der privaten Meinung, dass es nicht nur darauf ankommt, was man vertritt, sondern alles daran hängt, mit wem man auftritt.
Lebenslanges Lernen
Erster didaktischer Hauptsatz: Der lernt nichts mehr, der zu wissen meint, wie es geht.
Anschauungsunterricht
Keine Verschwörungstheorie hält sich damit auf, die Welt erst anzuschauen, bevor sie behauptet, sie zu durchschauen. Was sie im großen Stil betreibt, ist schon im persönlichen Verhältnis destruktiv: zu erklären, ohne verstehen zu wollen.