Die befreiende Wirkung, die der Wahrheit zugeschrieben wird, rührt daher, dass, sobald auf Lüge und Täuschung verzichtet wird, fortan die Sache für sich selber sprechen kann.
Leistungsprinzip
Es ist eines der Grundübel unserer Zeit, vor allem, weil es maßlos ausgenutzt wird, dass Menschen meinen, Anerkennung nur zu verdienen, wenn sie genug geleistet haben. Dabei ist es oft doch umgekehrt: die größte Lust an der Leistung entsteht, wenn sie in vorgegebener Anerkennung gründet. Auch wenn es ähnlich anmutet, klafft ein tiefer Unterschied zwischen der Fähigkeit, Wert zu schaffen, und dem Faktum, wertvoll zu sein.
Mehr Gerechtigkeit
Sehr zum Schaden der Gerechtigkeit wirkt, dass die Forderung nach ihr nicht selten von Leuten vorgebracht wird, die sie im Ton der Selbstgerechtigkeit vortragen.
Schlechte Sicht
Der allzu intensive Blick in die Zukunft weitet den Horizont, aber trübt das Sehen ein. Wer ihn vom Vergangenen leiten lässt, erkennt scharf, aber verengt sein Sichtfeld.
Das Gesicht spricht
Hinter der Maske, dem behördlich verordneten Mund- und Nasenschutz, der nicht Mund und Nase schützt, sondern vor deren gefährlichen Emissionen, verschwindet nicht nur das Mienenspiel. Die Worte klingen gedämpft, gelegentlich dumpf; und mit ihnen das Gesagte. Wie viele feine Nuancen gehen, gefiltert vom Zellstoff, verloren; manche Anrede erscheint harscher, als sie gemeint war. Der Witz kommt nicht zur Geltung. Die Zwischentöne, von denen Ironie und Hohn, aber auch der Flirt und der augenzwinkernde Unernst unmittelbar leben, müssen sich neue Ausdrucksformen suchen. Weil das Gesichtsfeld eingeschränkt ist, das nicht nur das Sehen umfasst, sondern auch das Gesehenwerden, wird auch die Welt ärmer.
Komm schon!
Der Fußball ohne Zuschauer ist ein Lehrstück der Eigenmotivation. Es gewinnt, bei nahezu gleicher Qualität der Mannschaften, wem die Niederlage so zuwider ist, dass er sie partout vermeiden will, und wenn sie sich schon hat nicht verhindern lassen, dass er sie um jeden Preis vergessen (machen) will. Der Ärger über das Misslingen ist da stärker als die Angst vor dem Fehlschlag.
Heiß gehandelt, kalt investiert
Die Börse ist der wundersame Platz, an dem die Logik des Markts sich besonders kühl zeigt, wenn der Handel von Wertpapieren heiß gelaufen ist.
Spiel und Ernst
Im Vorspiel kündigt sich an, dass es mit dem Spiel ernst wird.
Das Nachspiel zeigt, dass in jedem Spiel der Ernst lauert.
Maskenträger
Die besten Verstecke für die eigene Charakterlosigkeit und seelische Deformation, für Amoralität, Niedertracht, Schurkerei und Gemeinheit finden sich in Ethikkommissionen, Kirchen, an der Spitze von philanthropischen Stiftungen oder humanitären Organisationen.
Alter, was geht ab?
Die größte Faszination des Neuen ist, mit welcher Unbekümmertheit es über Gewohntes hinweggeht. Nie ist es neuer als in dem Augenblick, da es das Vertraute rücksichtslos für alt erklärt. Von da an fürchtet es nur noch, dass es einst dasselbe Los ereilt.
Toleranz
Im Sprachgebrauch von Toleranz steckt noch jene angestrengte Überwindung von Abneigungen und der Ablehnung, die am Ende aus der Vorsicht gegenüber Fremden und dem Widerwillen gegenüber anderen deren Anerkennung hat wachsen lassen. Dass einer eine Sache toleriert oder einer unvertrauten Überzeugung Respekt zollt, heißt aber noch lang nicht, dass er auf sie eingeschwenkt ist. Duldung ist eine Minimalakzeptanz; zwischen gleicher Geltung und Gleichgültigkeit besteht mehr als nur phonetische Verwechslungsgefahr. Was in gesellschaftlich unauffälligen Zeiten den Spielraum der Freiheit markiert, das Recht aller, fremd sein und anderes denken zu können, hat in politisch unruhigen Phasen den Hang, zur Pflicht zu mutieren, die eigene Position zugunsten der auch inhaltlichen Solidarität mit den Unterdrückten zu verlassen. Dabei ist die Vorstellung der Toleranz gerade der Versuch, Unterschiede lebbar und erlebbar zu machen, weil die Gleichheit deren Grundlage ist, auf die es zu setzen und an die es zu erinnern gilt. Der Ort der Toleranz liegt nicht selten jenseits des Streits, der um sie geführt wird.
Ich, Ich, Ich
Das Ende des Narzissten: Er, dem alles und jeder schnell lästig ist, wird sich, von allem befreit, selbst zur Last.
Dauerkrise
Ein Staat, der einmal das Maß seiner Fürsorge im Krisenmodus zugunsten der Bürger bis zu den Grenzen finanzieller Belastbarkeit ausgedehnt hat, findet nur schwer wieder aus dem latenten Paternalismus heraus. Denn das Volk leitet, wie auch in kleinen Angelegenheiten, aus großen Geschenken allzu rasch den Anspruch ab, dauerhaft versorgt zu werden. Und schwankt zwischen der Selbstverkleinerung, die eine Vormundschaft der politischen Institutionen herausfordert, und der Selbstvergrößerung, die als Konflikt sich äußert zwischen den Delegierten im Parlament und denen, die sich in ihrer maßlosen Unzufriedenheit unterrepräsentiert fühlen. Es ist der alte Eltern-Kind-Streit, in dem es immer nur ein Zuwenig oder Zuviel gibt, an Anerkennung wie Ablösung. Souverän zu sein heißt auch, in den entscheidenden Momenten allein gelassen zu werden.
Routine in Beziehungen
Das erste Anzeichen, dass sich in einer Beziehung Routine eingeschlichen hat, gibt der Wortschatz. Wenn er an seine Phantasiegrenzen gestoßen ist und über das Wort „Schatz“ hinaus kaum noch andere Kosenamen vorkommen, Varianten beim Gute-Nacht-Gruß entfallen oder im Erzählen mit der Lust an der Geschichte die Lust auf den anderen nicht wächst oder umgekehrt das Verlangen nach dem Gegenüber sich auch im Verlangen ausdrückt, ihn teilhaben zu lassen an den eigenen Lebenslegenden, dann zeigt sich in der Verarmung der Begriffswelt auch eine Gefühlswelt, die sich nicht mehr weiten will oder dehnen kann. Nicht ausgemacht ist allerdings, ob die Grenzen der Sprache auch die Grenzen der Liebe andeuten. Denn Routine kann sowohl ein Indiz für die Verflachung sein wie ein Ausweis von Vertiefung.
Fünf Sterne
Die Vielzahl von Bewertungen hilft weniger, sich ein Urteil zu bilden über die benotete Sache, als dass sie auf Dauer den Eigensinn zerstört.
Noch einmal Menschenliebe
Der Moralapostel eifert für den Eifer. Weil er den Glauben an das Gute, die Hoffnung auf Änderung und die Liebe zu den Menschen verloren hat, ist er nur noch seinen Prinzipien treu. Überall entdeckt er Anlässe, sich in eine unrechte Sache blindwütig zu verbeißen. Seine Verbissenheit ist so fest, dass er selbst dann kaum loskommt, wenn sich der Grund für die Verbohrtheit erledigt oder sich gar als nichtig herausgestellt hat. Am Ende, nach ungezählten Mühen, seine Gerechtigkeit in der Welt durchzusetzen, nach maßlosen Anwürfen und Anzeigen, Denunziationen und gehetzten Diffamierungen, gibt er zwar nicht auf. Aber seine Feindseligkeit reicht nur noch zum Hass auf sich selbst.
Tierfreund
Die Tierliebe und der Naturschutz ersetzen dem guten Menschen heute, was ihm an Menschenfreundlichkeit fehlt.
Die Liebe des Narzissten
Wenn der Narzisst liebt, bleibt er sich selbst treu.
Verhältnisse
Der heilende Geist rückt die Verhältnisse zurecht.
Wahrheit: die Beziehung, die mit der Wirklichkeit vertraut macht.
Trost: die Distanz, die das Vertrauen in die Wirklichkeit erträglich gestaltet.
Einheit: die Wirklichkeit, die die Spannung zwischen Unvertrautem ertragreich sein lässt.
Mut: die Kraft, die auf die Veränderung des Wirklichen vertraut.
Klarheit: die Einsicht, die sich selbst vertraut, wenn sie auf andere Wirklichkeiten schaut.
Geist und Geben
Die Gaben des Geistes, der zu Pfingsten angerufen und gefeiert wird, unterscheiden sich signifikant von seinen Eigenschaften: Er selber wird seit dem ersten literarischen Auftritt gleich zu Beginn des Schöpfungsmythos, als der Geist, der auf dem Wasser schwebt (רוּחַ, Gen. 1,2), im Modus der Flüchtigkeit und Windigkeit vorgestellt, als Wesen, das nicht ortsfest ist und dessen Unfasslichkeit eine elementare Voraussetzung seiner Wirkungen darstellt. Die allerdings besitzen gegenteilige Kennzeichen. Bekennermut, Trost, Wahrheitsliebe, Kraft, das alles sind Qualitäten, die von der Fähigkeit zeugen, der Lebenshärte Widerstand zu leisten, und die gegen soziale Drift und Zerrissenheiten Einheitsanstrengungen setzen. Ist das eine, die Beweglichkeit, gar eine Bedingung für das andere, die Beständigkeit? Vielleicht lässt Leben sich nicht klarer beschreiben.
Voyeurismus
Meist fördert der voyeuristische Blick auf das Leben anderer, der sich interessiert zeigt, mehr zu erfahren als das, was sich sehen lässt, gerade Dinge zutage, die man nicht sehen will und das Interesse am anderen ersterben lassen.
Warum Politik abstrakt sein muss
Das Reden in Floskeln verfängt nur bei einem Publikum, das aus vielen Menschen mit höchst unterschiedlichen Absichten zusammengesetzt ist. Je bunter die Mischung derer, die durch Ideen zu erreichen sind, desto abstrakter die Versprechungen. Da gilt es Worte zu wählen, die gerade noch Vorstellungen wecken, und Interessen zu befriedigen, die jeder hat, aber noch nichts so Genaues zu sagen, dass viele sich ausgeschlossen fühlen. Die Sprache, mit der man an die Macht kommt, muss sich von der Sprache fundamental unterscheiden, mit der man sich an der Macht hält.
Wir sind das Volk
Zwischen dem Volk und seinen Vertretern, die es in den Parlamenten politisch repräsentieren, herrscht bei allem souveränen Willen, der sich in Wahlen ausdrückt, und der Delegation dieser Vorstellung in den Mehrheitsverhältnissen vor allem eine heimliche Verachtung. Sobald sie regieren, stehen die Abgeordneten im Dauerverdacht, auf Bürgeransinnen kaum noch Rücksicht zu nehmen, und die Politiker reagieren umgekehrt auf die Artikulation solcher Absichten immer wieder mit Achselzucken, Kopfschütteln und Ignoranz, weil sie „das Volk“ in solchen Momenten für ungebildet, durchschnittlich, verführbar und verantwortungslos halten. Es ist ein altes Missverstehen, das sich in der wechselseitigen Geringschätzung ausdrückt. „Jede Interpretation der politischen Bedeutung des Wortes ,Volk‘ muss von der bemerkenswerten Tatsache ausgehen, dass es in den modernen europäischen Sprachen immer auch die Armen, Enterbten und Ausgeschlossenen bezeichnet. Dasselbe Wort benennt mithin sowohl das konstitutive politische Subjekt als auch die Klasse, die, wenn nicht rechtlich, so doch faktisch, von der Politik ausgeschlossen ist.“* Die Repräsentation in der Demokratie spiegelt diesen Zwiespalt wider: Sie beruft sich auf das Volk, das sie legitimiert, und beschränkt es zugleich, indem es viele seiner Forderungen zurückweist und ihnen die Anerkennung versagt.** Der Ruf: Wir sind das Volk, enthält also beides: die Erinnerung der Politiker an den Souverän und die genaue Selbstidentifikation als jene gesellschaftliche Größe, auf die keine Rücksicht genommen werden muss.
* Giorgio Agamben, Homo sacer, 186
** Philip Manow widmet in seinem gerade erschienenen Buch, (Ent-)Demokratisierung der Demokratie, diesem einschließenden Ausschluss und ausschließenden Einschluss des Volks ein kluges Kapitel: „Repräsentation wird also als Läuterungsprinzip verstanden. Sie erzeugt die Reinheit der Bedeutung. Im Begriff des Volkes wurde damit eine normative Größe installiert, durch die sich Ansprüche abweisen lassen, weil sie die Form ihrer Anerkennung verfehlen.“ (aaO. 46f.)
Wunsch und Wirklichkeit
Wenn die Erwartung mit der Zuversicht eine Wendung ins Positive bekommt, und die Zuversicht sich zur Hoffnung verdichtet hat, und die Hoffnung sich als Wunsch genau auszudrücken vermag, ist mit der Präzision der ursprünglichen Annahme auch der Wille still gewachsen, diesen Drang zu realisieren. Leichtsinn ist zwar die verzeihlichste Variante einer Macht, die sich selber überschätzt, weil sie eine Wirklichkeit, die sie nicht ändern kann, ignoriert. Aber er ist deswegen alles andere als harmlos.