In nur wenigen Fällen des Lebens ergibt sich aus der Erkenntnis, dass ein Weg nicht gangbar ist, schon die Vorstellung, wie es denn gehen könne. Schon deswegen sollte jeder, der einen aktuellen Zustand kritisiert, darauf befragt werden, wie stark und plausibel seine Auffassung ist und ob sie eine bessere Perspektive verheißt.
Schutz vor der Freiheit
Freiheit ist ein Kampfwort. Sie will errungen sein. Nicht zuletzt wider jene Kräfte, die sie selber entfesselt hat. Das mag paradox erscheinen: Frei verdient nur derjenige genannt zu werden, der die Freiheit mit ihr selbst überwunden hat. So kann das Recht als eine Form verstanden werden, in der die Freiheit vor ihrer eigenen Verabsolutierung geschützt wird. Durch Beschränkung achtet das Gesetz die Freiheit, die noch jedem Respekt abgenötigt hat, der sich ihrer Macht anvertraut.
Sich selbst vergeben
Es ist die Liebe nicht nur eine Kraft zu vergeben, auf dass das, was unentschuldbar zu sein scheint, keine Bedeutung mehr hat. Dieselbe Liebe sorgt in ihrem Überschwang nicht selten auch für jene Fehler, die sie später, versöhnlich gestimmt, nicht nachtragen wird. Und dennoch fehlt der Liebe, die so vieles will und so vieles kann, die sich mit Geduld, Gnade und Großmut verbündet, aber auch mit Leichtsinn, Blödsinn und Unsinn paktiert, ein Talent: sich selbst zu verzeihen.
Starke und schwache Theorien
Die Stärke schwacher Theorien: das Denken rechnet mit Überraschungen und lässt sich durch das Leben verändern. Alles kommt darauf an, immer wieder sagen zu lernen, was man sieht.
Die Schwäche starker Theorien: das Denken lebt von Berechnungen, die eine Veränderung überraschungsfrei hält. Alles kommt darauf an, Beobachtungen begrifflich zu bestätigen. Stärker noch als deren Falsifikation sorgt das Maß der Langeweile, das sie selber erzeugt haben, für die Ablösung von Theorien.
Abschiedsfolgen
Himmelfahrt: Dazu gehört viel Geist, einen Abschied als höchste Form der Zuwendung anzusehen.
Kürze, Würze
Je kürzer ein Satz, desto klarer muss der Gedanke sein, den er darstellt. – Gibt es unklare Gedanken; hören sie auf, Gedanken zu sein, sobald sie unklar sind? Stellt ein Satz den Gedanken dar, oder repräsentiert er ihn, vertritt ihn, verweist auf ihn? Was ist ein Gedanke anderes als der Satz selbst? Hängt die Klarheit an der Kürze, oder zwingt die Kürze zur Klarheit? Wäre es noch derselbe Gedanke, wenn der Satz in die Länge gezogen wäre? Wie viele Wörter braucht es, um gerade noch nichts Dunkles zu sagen? – So viele Unklarheiten in einem so kurzen Satz.
Ganz im Vertrauen
Nichts ist so unangemessen, wie die Vertraulichkeit eines Gesprächs mit Vertraulichkeiten zu erwidern. Wie ja auch die Dummheit eines solchen Handelns nicht unter die Dummheiten fällt, die man sich sonst im Leben leichtsinnig leistet. – So manche Sache gewinnt nicht an Bedeutung, wenn man sie vermehrt; der Plural verniedlicht sie ins Unwesentliche.
Das ist doch normal
Dass das Gebotene zugleich auch als selbstverständlich angesehen wird, ist der Glücksfall für jede Handlungsempfehlung. Wenn Erforderliches vom Gewohnten überboten wird, entsteht der Krisenfall, der Handlungsanweisungen erzwingt. Normal ist eben nie fraglos. Das eine soll sein, das andere ist. Notwendige Rückschlüsse von einer Regel auf das Zweifellose erübrigen sich, sonst bedürfte es der Verfügungen nicht; sinnvolle Folgerungen vom Alltäglichen auf das Angeordnete lassen sich nicht ziehen. „Das ist doch normal“, sagen wir und meinen das Gegenteil: Es sei selbstverständlich. In diesen Zeiten der Ansteckungsgefahr, die das Leben anstrengt, ist gerade wenig natürlich und allzu viel muss neu verabredet werden, weil die Frage, was gilt und wie wir es halten wollen, wieder und wieder zu justieren ist und sich nicht mehr von selbst beantwortet.
Im Bad
Was er nach dem Aufstehen so lang im Bad mache? Er habe doch kaum Salben und Cremes, Puder oder den anderen Plunder, um gegen die Falten zu arbeiten …
Die längste Zeit seiner Morgentoilette verbringt er damit, all die Nachtmahre, die Traumgestalten, die schrecklichen Schatten des Schlafs wieder in ihre Winkel zu scheuchen, aus denen sie in der Zeit, in der das Bewusstsein abwesend ist, hervorgekrochen sind und die innere Welt in Unordnung gebracht haben. Sich zurechtmachen bedeutet auch, die Gedanken wieder auszurichten.
Soforthilfe
Was ist eine Hilfe wert, die alles bietet, nur kein Zeitgefühl? Nichts. Timing ist ihr wesentlich; in ihrem Dienst verbündet sie sich heimlich mit dem Kairos. Eine Unterstützung, der das Gespür fehlt für den rechten Augenblick, verfehlt ihre Absicht, gelegentlich ihr Ziel. Zu früh angeboten, düpiert sie den, der seine Not noch nicht ahnt; zu spät offeriert, demütigt sie, wo einer ohnehin schon darniederliegt und sich nicht mehr rühren kann. Die echte Hilfe will nichts anderes als die Wiederaufrichtung eines Verhältnisses, in dem man sich auf Augenhöhe begegnen kann.
Gesichtshälfte
Der horizontale Schnitt durchs Antlitz, der in Zeiten der Ansteckungsgefahr nur noch den Blick freilässt, alles darunter aber von der Maske verdeckt, wirkt gegen das Symmetrieempfinden. Die Hälfte des Gesichts ist eben nicht identisch mit der Gesichtshälfte. Hier markiert sie schlicht eine quantitative Größe, dort bezeichnet sie eine Qualität, die einst als Profil in Verbrecherkarteien oder dem Scherenschnitt über den markanten Umriss einen genauen Identitätsnachweis erbrachte. Was sich nicht durch eine vorgestellte Spiegelung zur Vollständigkeit ergänzen lässt, bedarf kompensatorischer Phantasie. Die Augen sind gefordert, nicht nur zu sehen, sondern auch zu sprechen. So repräsentieren sie, anders als die Seitenansicht, die Person. In seiner Phänomenologie des Blicks schreibt Sartre: „Wir können nicht die Welt wahrnehmen und gleichzeitig einen auf uns fixierten Blick erfassen; es muß entweder das eine oder das andere sein. Wahrnehmen ist nämlich anblicken, und einen Blick erfassen ist nicht ein Blick-Ojekt in der Welt erfassen (außer, wenn dieser Blick nicht auf uns gerichtet ist), sondern Bewußtsein davon erlangen, angeblickt zu werden. Der Blick, den die Augen manifestieren, von welcher Art sie auch sein mögen, ist reiner Verweis auf mich selbst.“*
* Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts, 345
Die Rache der Wirklichkeit
Nie wird Wirklichkeit stärker erfahren als in dem Augenblick, da sie jene Zeitspanne beendet, in der wir sie ignorierten.
Liebesreigen
Aus der Serie „Klassische Dialoge zum Mitsprechen“
Sie: Wie soll ich mir die Haare schneiden lassen? Vielleicht etwas kürzer als sonst? Sag mal.
Er: Das musst du wissen. Da kann ich gar nichts zu sagen.
Sie: So hilf mir mal. Ich will dir doch gefallen.
Er: Du gefällst mir, wenn du dich wohlfühlst.
Sie: Ich fühle mich wohl, wenn ich dir gefalle.
Rede und Antwort
Worauf es in einer Rede ankommt: weniger auf die Wörter als auf das Wort.
Die zwei Seiten
Jede Wahrheit hat zwei Seiten. Die eine ist die Wahrheit, die andere der Irrtum.
Lebendige Tradition
Nicht in der Wiederholung, sondern in der Entdeckung der Frage, von der sich einst die Altvorderen drängen und leiten ließen, erfüllen wir eine Tradition. Man geht mit einem Vermächtnis sinnvoll um, wenn man im Geist der Sehnsucht, deren Erfüllung das Erbe darstellt, sich abermals auf die Suche macht, um neue Formen zu finden, die als Antwort taugen. In jeder Erwiderung steckt eine leise Verachtung der Schwierigkeit, die sie kontert. Konservativ verdient der genannt zu werden, der sich anstrengt, den Problembestand lebendig zu halten, nicht jener, der an den Lösungen festhält.
Alles gelesen?
Von Zeit zu Zeit fragen die Gäste, wenn sie vor der Bücherwand stehen: Die haben Sie doch nicht alle gelesen, oder? Als ob es darauf ankäme. Man muss die Bibliothek ansehen wie die Fülle der Flaschen, die im Weinkeller lagern. Da fragt auch keiner: Trinken Sie die alle leer? Aber es wäre möglich. So sind auch die Bände im Regal nicht danach eingestellt, weil sie von der ersten bis zur letzten Seite durchgearbeitet wären. Sondern sie sind stille Versprechen, einem eigenen Gedanken aufzuhelfen, Auslöser einer Idee zu sein, Anreger oder die Hoffnung auf ungekannte Erfahrungen. Und etliche dieser Möglichkeiten werden nie eingelöst.
Was die Krise nie verzeiht
Man kann sich aus einer Krise nicht zurückziehen, aber man kann im Kampf gegen sie resignieren. Wann sie vorbei ist, ergibt sich nicht aus einem Beschluss. Als Krise gelten jene Zeiten, in denen auf lästige Art deutlich wird, dass Geschichte gelegentlich Gewalt ausübt. Nichts verzeiht sie weniger als den fahrlässigen Versuch, sich ihrer zu entledigen, indem man sie ignoriert. Und dennoch muss alle Anstrengung gerichtet sein darauf, dass in der Krise das Leben nicht unversehens monothematisch wird. Ein starkes Bewusstsein, dass es auch anderes gibt als sie, ist der Anfang vom Ende der Krise.
Mach dich locker
Grenzen selbst zu setzen, statt sich fremden Regeln zu unterwerfen, ist, was spätestens seit der Aufklärung zum Hauptprogramm eines vernunftbegabten Wesens gehört. Man nennt das Freiheit und muss sofort erinnern, dass zu ihr vor allem die Fähigkeit gehört, sich selbst zu beschränken. Nichts muss sich ändern im eigenen Handeln mit den annoncierten Lockerungen des Staats; und vieles sollte sich nicht, so lang die Ansteckungsgefahr groß ist. So verlockend der leichte und lose Alltagsgestus ist und stets als Ausweis des souveränen Umgangs mit dem Leben gilt, so unmittelbar zeigt sich die wiedergewonnene Souveränität im rücksichtsvollen Umgang mit anderen, denen gegenüber sich verantwortlich zu wissen als Nachweis gelten mag, den Spielraum von Freiheit ausgemessen zu haben.
Selbstbetrug
Das ist die Grundverlogenheit des Lebens, dass ein Mensch, der vieles kann und Widersprüchliches will, der heute so und morgen ganz anders gestimmt ist, der sich selbst nicht durchschaut und oft nicht merkt, wie dreist er sich belügt, dass dieses komplexe Wesen sich für homogen hält und sich als schlicht, als verlässlich, als eine einheitliche Persönlichkeit ausgibt. Warum diese gedankenlose, unwillkürliche Maskerade? Damit er als liebenswert erscheint. Und weil er nicht versteht, dass die Liebe gerade das ist, was Unvereinbares versöhnt, Unterschiede aushält und gegen die Unstetigkeit Dauer setzt.
Was geht? Und wann?
Unter allem, was einer Sache Sinn verleiht, ist die Perspektive, die sich mit ihr verbinden lässt, die entscheidende Zutat. Ohne diese Aussicht, ohne die Gewissheit in der Frage, wozu sie taugt, was sich mit ihr anstellen lässt, wann sie einzusetzen ist, fehlt ihr jene feste Bestimmung, die erlaubt, sie wie in einem Koordinatensystem dem eigenen Leben zuzuordnen. Das ist Sinn: genau angeben zu können, wo der angestammte Platz ist für das, was das Interesse erweckt hat.
Diskussionswürdig
Viel wäre für die Sache gewonnen, wenn in einer Diskussion nur dasselbe Maß, die eigene Überzeugung zu begründen, eingesetzt würde, wie wir an Mitteln aufwenden, den anderen zu verunsichern.
Ohne Vorbereitung
„Komm, wir gehen da mal schnell rein.“ – „Einen Augenblick, die Schlaufen meiner Maske haben sich verheddert. Ich muss sie mir neu aufziehen.“
„Schön, dass Ihr überraschend geklingelt habt. Wenn Ihr vielleicht einen Moment draußen warten wolltet. Ich muss erst Tisch und Stühle auseinanderziehen, damit wir genügend Abstand haben.“
„Wollen wir ein Eis essen?“ – „Die Schlange vor dem Salon ist mir zu lang, Da brauchst du zwanzig Minuten, bis du an der Reihe bist.“
Eine der wesentlichen Formen sozialer Nähe ist die Spontaneität. Sie enthält beides: das Ungefragte und das Fraglose. So angenehm es sein kann, dass jenes in Zeiten des gepflegten Abstands wegfällt, so sehr nervt, dass auch das verschwindet, was sonst in schönster Unmittelbarkeit geschieht.
Hindernislauf durch die Krise
Der allenthalben beschworene Gemeinsinn, die Achtung des Anderen, die Zuwendung zum Schwächeren, die Sorge um die Kranken, all diese feinen Zeichen der Solidarität werden, noch heimlich, verdrängt vom Wettbewerb um die beste Ausgangsposition nach der Krise. Welches Land kommt eleganter durch? Welche Region hat die wenigsten Angesteckten? Welche Stadt kann sich zuerst als virenfreie Zone erklären? Wer ist rasch und ohne tiefere Blessuren in der neuen Normalität angelangt, die alles sein darf, nur nicht Alltagsnorm? Längst dienen die täglichen Zahlen der Neuinfizierten, der Genesenen, der leeren Krankenhausbetten, als Ausgangspunkt für den Vergleich mit denen, die es nicht so gut hinbekommen. Und es wächst unter vielen, die meinen, der Zeitenunbill getrotzt zu haben, eine fatale Einsicht heran, die sich noch als Frage tarnt: Könnte es sein, dass die Formen der Beschränkung und Beschrankung, soziale Distanz, Barrieren zwischen Nachbarstaaten und das strikte Besuchs- oder Reiseverbot, mehr sind als nur die harten Reaktionen auf einen Krankheitsnotstand? Könnte die Wiederentdeckung der Grenze, die Kleinteiligkeit der Handlungen, die Verengung des Horizonts nicht der Grund sein für die eigene Überlegenheit? Das ist die eigentliche Ansteckungsgefahr: dass die Angst aller jeden auf sich zurückwirft.