Sobald die Fakten sich leicht ins Positive kehren, fangen die Menschen schon wieder an, heftig zu träumen.
Wer den Schaden hat
Nur der Kluge wird aus Schaden klug, weil es nicht der Schaden ist, der klug macht, sondern eine Vernunft, die verhindert, dass man an ihm irre wird.
Gott in der Krise
Die Passionsgeschichten, die am Palmsonntag mit dem Einzug des Erlösers in Jerusalem beginnen, setzen vor die dramatische Schilderung des Leids Humor. Im Stil einer Parodie lassen sie den Protagonisten ins Geschehen treten, in dem er weniger handelt, als dass er duldet. Er, der Weltenretter, setzt sich auf einen Esel, wo andere Herrscher hoch zu Ross durch die Tore der Stadt ritten, die Gesten der Macht ins Komische und Understatement brechend. Das Volk, das von ihm alles erwartet, als es „Hosanna“ schreit, weiß nicht, ob es jubeln soll oder flehen, wie es im Hebräischen heißt: Hoschana, hilf doch! Und es erlebt fortan einen Gott in der Krise, der so sein Versprechen einlöst, ein Gott in der Krise zu sein. Viele Zweideutigkeiten auf einmal. Bis dahin, dass offenbar wird, wie die Summe der Missverständnisse ins Verstehen führt.
Wie viel Hoffnung braucht der Mensch?
Die griechische Mythologie führt das Leid und die Übel, die die Welt heimsuchen, zu denen nicht nur Krankheit und Tod zählen, sondern auch die Arbeit (heute wäre es die Arbeitslosigkeit), auf die Neugier der Pandora zurück. Die hielt sich nicht an das Gebot, die Büchse verschlossen zu lassen, die ihr aus Götterhand geschenkt worden war, sondern ließ den verhängnisvollen Inhalt entweichen. Allein die Hoffnung blieb im Gefäß; den Deckel setzte die Lehmfrau drauf, bevor auch sie sich ausbreiten konnte. Seither kennt der Mensch die Hoffnung nur dosiert. Nietzsche hielt sie für „das übelste der Übel, weil sie die Qual der Menschen verlängert“.* Das kann die Hoffnung in der Tat sein, wenn sie das Maß der Erwartungen zu weit über die Wahrscheinlichkeit setzt, dass sie erfüllt werden, oder nur noch als winziger Funken nichts mehr erhellt in düsteren Momenten. Doch ist der lange Atem der Hoffnung in Wahrheit nichts als das Bewusstsein für die Endlichkeit von allem, also auch des Elends. Dass der Volksmund ihr die Eigenschaft verleiht, zuletzt zu sterben, will bloß heißen, dass sie die Beschränktheit von allem anderen kennen und so mit Recht sich widersetzen kann gegen die Aussichtslosigkeit, die die Grenze der Not nicht wahrnimmt.
* Menschliches, Allzumenschliches § 71
Gewissensentscheidung
Die wirklich ernsten Entscheidungen werden gefällt nicht nur – das gilt immer – unter der Bedingung von Ungewissheit. Für sie muss vielmehr angenommen werden, dass auch nach dem Entschluss, also von dem Augenblick an, da die Ungewissheit durch die getroffene Wahl aufgehoben ist, zweifehaft bleibt, ob der geeignete Weg eingeschlagen wurde. Das Gewissen übernimmt im Urteil die Aufgabe, einen Schritt entschlossen zu rechtfertigen, von dem nicht einmal im Nachhinein mit Sicherheit gesagt werden kann, dass er der richtige war.
Ausnahmesituation
Es gibt ein sicheres Kriterium für den Zeitpunkt, von dem an Krisen ihren Höhepunkt überschritten haben: das ist der Moment, in dem wir Lebensformen, die wir in der Ausnahmesituation und für sie entwickelt haben, künftig nicht mehr missen wollen.
Und? Was denkst du?
Es ist anstrengend, wider das Offensichtliche zu denken. Je geringer die Beteiligung der Sinnlichkeit an dem, was doch für ernst erklärt werden muss, desto größer die Bandbreite der Deutungen. Dass unablässig über die Gefahr gesprochen wird, dass Theorien und Unverständnis, Zorn oder Ängste, Geschichten und Vermutungen ausgetauscht werden wie in den fröhlichen Zeiten des unbeschränkten Warenverkehrs, hat wenig damit zu tun, dass wir so viel wüssten, als vielmehr mit dem Mangel an genauen Einsichten. Ob das Virus in den Worten präsenter ist als in der Wirklichkeit, mag nur die typische Befürchtung sein einer Vorstellungskraft, die ihre Phantasie herausgefordert sieht, um der Bedrohung nüchtern zu begegnen, und sich vor dem Phantastischen hüten muss, um sie zu bewältigen.
Lebenslust
Die Lebenslust ist die einzige Steigerungsform, die den Menschen am Ende nicht überfordert. In der beharrlichen Erwartung, dass morgen ein schönerer Tag komme, dass die nächsten Einsichten heller seien, dass Freundschaften sich auf Dauer vertieften, dass auch eine große Liebe noch wachsen könne, dass es in jedem Fall lohne, eine Spanne dranzusetzen an all das, was die Zeit schon gebracht hat, in dieser Erwartung verbirgt sich weniger eine unbelehrbare Naivität, die nicht wüsste, dass es auch anders kommen kann, als die unbändige Neugier des Lebens auf sich selbst.
Stillstand
Es ist das Kennzeichen eines unbeschädigten Lebens, dass seine innere Bewegtheit wächst in dem Maße, wie es zum äußeren Stillstand kommt.
Der vorbereitete Geist
Solange die Zukunft mehr anstrengt als das, was zu tun war oder ist, stehen wir am Anfang einer Krise. Alle Kraft konzentriert sich auf den ungewöhnlichen Umstand, dass große Ungewissheit nicht so sehr Bedächtigkeit und Zweifel hervorruft, sondern maximale Entschiedenheit fordert und den Menschen auf ein Handeln verpflichtet, von dem niemand mit Fug sagen kann, ob es angemessen sein wird. Louis Pasteur, der im neunzehnten Jahrhundert die Mikrobiologie mitbegründet hatte und ein Verfechter der Impfung wider Infektionskrankheiten war, erinnerte an die Verwegenheit der Propheten, wenn er zur Entschlossenheit aufrief (er experimentierte in der Landwirtschaft mit Vakzinen gegen Viren), seinen Programmen zur Immunisierung gegen Krankheitserreger zu folgen. Propheten wissen im erkenntnistheoretischen Sinn nicht mehr als andere, aber ihre Ahnung von dem, was kommen wird, ist voller Kraft zum Weckruf und begleitet vom gesammelten Ernst zu agieren. „Der Zufall begünstigt den vorbereiteten Geist“*, sagte der Biochemiker. Was das bedeutet? Nicht: mit allem wild zu rechnen. Aber: das Maß der eigenen Fähigkeiten zu erhöhen, von denen der Mut eine bevorzugte ist.
* Pasteur Vallery-Radot (Hrsg.): Œuvres de Pasteur. Band 6: Maladies virulentes, virus-vaccins et prophylaxie de la rage. Masson, Paris 1933, 348. – Der Satz, der von Managern gern zitiert wird, verweist auf ein altes lateinisches Sprichwort, nach dem den Tapferen, den Befähigten das Glück helfe.
Flache und steile Kurven
Aus dem ersten Entwurf einer Gesellschaftstheorie, die vor fast fünfzig Jahren so konzipiert wurde: „Fragen wir zunächst unseren Zeitgeist. Wenn unsere Gesellschaft sich auf ein Symbol einigen müßte, so würde es vermutlich nicht der Kreis, nicht das Kreuz, nicht die Linie sein, sondern die schwindelerregende Exponentialkurve. Exponentialkurven, die zunehmend beschleunigte Zunahmen von was auch immer ausdrücken, symbolisieren gegenwärtig die Einheit von Wunsch und Krisenerwartung.“ Es liege auf der Hand, „die Zeichen der Zeit als Symptome der Überforderung durch Komplexität zu deuten“*, setzt der Autor, Niklas Luhmann, in seinem Typoskript fort. Und man könnte anschließen: Wenn unsere Welt sich auf einen Begriff einigen müsste, der ihren Zeitgeist präzise erfasst, so ist es: diese Überforderung (durch sich selbst). – Der Theologe wird einwenden wollen, dass es der Gesellschaft dann doch guttäte, sich des vorösterlichen Symbols des Kreuzes als eines Verweises auf die größtmögliche Entlastung vom Steigerungszwang wieder zu erinnern.
* Niklas Luhmann, Systemtheorie der Gesellschaft, 300
Warteschlange
Im Unterschied zu den anderen Arrangements mit dem Unvermeidlichen wie der Vergeblichkeit oder der Verzweiflung, der Verdrängung und dem Vergessen wendet die Geduld sich hin zu dem, was den Aufschub erzwingt. Sie hält die Spannung aufrecht, indem sie die Änderung der Verhältnisse still erhofft, ohne darauf zu setzen, dass ihre Erwartung unmittelbar erfüllt wird. Dieser Langmut hält das hohe Niveau seiner Ansprüche, auch wenn nicht gleich zu erkennen ist, wie sie eingelöst werden sollen. Er lebt von der Überzeugung, am Ende recht zu bekommen. Die Geduld hat vor allem eine schöne Eigenschaft: Sie hält wach.
Verhältnismäßigkeit
Die Zeit kommt, in der die Aufmerksamkeit, die gebannt ist von der einen Ansteckungsreihe, der medizinischen, und die es zu unterbrechen gilt, sich hinwendet zur anderen epidemischen Infektionskette: der, über die ein auch gefährlicher Erreger springt von der Massenerkrankung, der Aufhebung von elementaren Rechtsgrundsätzen auf die Volkswirtschaft, von dort über Versorgungsengpässe hin zu gesellschaftlichen Unruhen, in denen zunächst die Kranken geächtet werden und dann jeder gegen jeden sich aufrichtet, weil er um sein eigenes Überleben fürchtet.
Wo mobile Ambulanzen, die alte Patienten transportieren, vom steinewerfenden Pöbel aufgehalten werden, sind neben die leuchtenden Signale der Solidarität düstere Anzeichen von Anarchie gesetzt. Es ist der Moment, in dem die Angst, dass alle gleichermaßen getroffen sein könnten von einem feindlichen Virus, sich auflöst in die Ängste der vielen, die unterschiedlich stark mit den Auswirkungen der Krise zu kämpfen haben, den finanziellen wie denen, die unsere Freiheit beschränken. Und die jetzt mutmaßen, es könnte die radikale Bekämpfung des Notstands, nach einem alten Aphorismus von Karl Kraus*, die Krankheit sein, für deren Therapie sie sich hält.
Nun sind Differenzierungen ein Indiz von Klugheit, auch im Umgang mit Katastrophen. Und die Gleichsetzung ist nichts, was ohne die Angabe einer Bezugsgröße sinnreich sein kann: Wir sind gleich vor dem Gesetz, vor dem Tod, vor Gott. Was eine ungleiche Behandlung von Aufgaben, Fragen, Problemen nicht ausschließt, sondern als deren Bedingung gilt. Sind wir aber auch gleich vor der Krankheit? Die Einteilung in Risikogruppen markiert nicht nur uneinheitliche Gewichtungen, die unmittelbar der fatalen Statistik folgen, sondern auch den Ausgangspunkt einer Selektion in bester Absicht fürs große Ganze, der Wirtschaft und Gesellschaft, die im Einzelfall höchst zweifelhaft ist.
Dass Menschenleben nie gegeneinander verrechnet werden dürfen, ergibt sich aus einer fragilen Zuschreibung, die das Grundgesetz unter den Stichworten „Würde“ und „Unantastbarkeit“ zusammenfasst und die den alten Grundsatz von Immanuel Kant aufnimmt, nach dem jeder von uns als ein Individuum anzusehen sei, das „niemals bloß als Mittel“** zu betrachten ist, das für höhere Zwecke geopfert werden darf. Geschieht das nicht längst, wo Ärzte mangels Ausrüstung verzweifelt entscheiden müssen, wem die Hilfe gewährt wird? Und geschähe das nicht in dem Augenblick, in dem ausgewählt (nach welchen belastbaren Kriterien, wenn längst auch Jüngere in signifikanter Zahl ernsthaft erkranken?) und die Gleichheit vor dem Gesetz aufgehoben würde? Verwandelte sich die Bezeichnung „Risikogruppe“, die den besonderen Schutz herausfordert, nicht unterschwellig in eine boshafte Identifikation jener, die eine ganze Ökonomie riskierten, wenn sie nicht in ihren Bewegungsräumen strikt eingehegt würden? Wären die Gefährdeten dann nicht auch die Gefährder?
Der Pragmatismus, der seine gesammelten Vorzüge in den Stunden der Krise brillant auszuspielen vermag, hat wie alles, das vom eigenen Erfolg getragen wird, einen Hang zur Verabsolutierung. Als dessen Korrektiv, das solche Unmäßigkeit verhindert, muss das Prinzip der Selbstzwecklichkeit des Menschen gesehen werden, nicht als der bornierte Ausdruck eines besserwisserischen Philistertums. Nein, es geht auch hier nicht um Pedanterie im Großen, sondern um eine Beschränkung, um die strikte Erinnerung an jene Vorsicht, sich nicht, trotz des hehren Willens zu retten, was zu retten ist, versehentlich anstecken zu lassen allein von Nützlichkeitserwägungen im Heiligsten, der letzten Unberührbarkeit des Lebensgeheimnisses, das sich in unserer Freiheit, als Vernunft, in der Vorstellung der Würde manifestiert. Das trägt nicht immer zur Klarheit bei, leitet in tragischen Momenten nicht eindeutig an, aber es kann als ein untrügliches Regulativ wirken, das selbst in der unauflösbaren Problematik den Zwang zum Entschluss nie leichtfertig sein lässt. Und ihm in dieser Last das Versprechen beigibt einer Erträglichkeit, die mit dem Maß der Verantwortung steigt.
Diese Demut, die sich im Umgang mit Fragen zeigt, von denen wir nicht einmal sagen können, sie seien falsch, sollte in die Zurückhaltung münden, wenn jene ernsten Antworten auf sie gegeben werden müssen, von denen wir schon deswegen nicht behaupten mögen, dass sie je richtig sein könnten.
* „Psychoanalyse ist jene Geisteskrankheit, für deren Therapie sie sich hält.“ – Nachts, A 1684
**„Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ – Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 66
Umwertung der Werte
In der Übergangsphase vom Leben ins Überleben, durch deren Länge die Drastik einer Krise definiert wird, verwandelt sich vieles von dem, was vor Kurzem noch als notwendig und bedeutsam, als Schmuck und Stolz erachtet wurde, zunächst in blassen Luxus, bevor es wenig später für überflüssig erklärt wird. Das ist eine der heilsamen Nebenwirkungen – oder gar: das Charakteristikum*? – der großen Krisen, dass sie in ihrer zerstörerischen Wucht nicht nur unterschiedslos wüten, sondern zugleich den Sinn schärfen für die Unterscheidung, wer oder was wichtig, verlässlich, grundlegend ist.
* Das Wort „Krise“ ist abgeleitet aus dem griechischen κρίνειν (krínein), das mit „trennen“, „scheiden“ übersetzt wird.
Einen schönen Tag noch
Das, was zu besprechen war, hatten sie beredet. Aber er wollte nicht gleich auflegen, wie sonst, wenn er am Telefon war und das Geschäftliche abgehakt, sondern suchte verkrampft noch ein, zwei freundliche Worte. Ist ja wichtig in diesen finsteren Zeiten, dachte er. „Wie ist das Wetter bei Euch?“ Seiner Vorstellungskraft, wie er in ein Gespräch jenseits der förmlichen Fragen einsteigen könne, waren Grenzen gesetzt.
„Verlogen“, antwortete sie.
„Ich meine, ist es auch so schön?“
„Das sagte ich ja. Ich finde, dass die letzten Tage die Sonne von einem wolkenlosen Himmel strahlt, ist verlogen. Bigottes Wetter, das ist die neue meteorologische Bezeichnung für ein stabiles Hoch. Als könne die Welt gerade kein Wölkchen trüben.“
Alles, was er sich als Nächstes zurechtgelegt hatte für den Teil des Dialogs, den er für so überflüssig hielt, für inhaltsloses Gerede und sinnloses Geplaudere, passte nicht mehr. Er wusste nicht, was zu erwidern, und stammelte: „Du meinst …“
„Die Wahrheit wird immer abstrakter. Morgens stehst du auf, und wüsstest du es nicht besser, würdest du nur fröhlich denken: was für ein herrlicher Tag.“
„Was ist daran schlimm?“
„Nichts. Nur dass wir gerade das Gegenteil dessen sehen, was Sache ist. Dennoch, denke ich, können wir aus dieser wetterkundlichen Arglist eine Menge lernen. Zum Beispiel, dass solche Verkehrtheit durchaus richtig sein kann. Richtig, weil tröstlich. Und dass das ernste Starren auf Zahlen und Prognosen nicht nur freudlos ist, sondern auch vieles fehlleitet. Du wirst sehen, das scheinheilige Wetter wird noch die Fakten beeinflussen. Die Leute handeln an der Börse mit guter Laune besonnener, ja lassen sich manchmal sogar treiben zu Käufen, die sie sonst zurückstellten. Und auf die Gesundheit wirkt sich das auch aus. Warte es ab.“
Auf dieses unsichere Terrain wollte er sich wirklich nicht mehr begeben. Ihm wurde mulmig, und er murmelte nur: „Wir stehen erst am Anfang der Krise.“
„Eben“, erwiderte sie, „und am Anfang so mancher Einsicht. Lass uns schließen für heute.“
Die Stunde der Realität
Wie sehr die Weltlage nicht mehr nur fesselt, sondern gefangen hält, spürt man spätestens beim verzagten Fluchtversuch. Erschöpft vom Übermaß an Schreckensmeldungen und düsteren Szenarien, kommt kurz der Gedanke auf, auszuweichen und sich abzulenken durch Filmkunst oder literarischen Stoff. Doch obwohl man von den Katastrophen für einen Moment nichts mehr hören kann, wirkt alles andere in seiner sonst schönsten Unwirklichkeit fad, ohne Gewicht, unbedeutend. In der Krise wird die Realität gewaltsam und bemächtigt sich des Spielraums der Phantasie.
Starker Staat
An nichts anderem als an seiner Fähigkeit, das Vertrauen der Bürger in seine Politik zu stärken, zeigt sich die wahre Stärke eines Staats.
Aura
In den „Mitteilungen über das Wesen der Aura“, die er im März 1930 in seinen „Erfahrungsprotokollen zum Haschischgebrauch“ notierte, schrieb Walter Benjamin: „Vielmehr ist das Auszeichnende der echten Aura: das Ornament, eine ornamentale Umzirkung, in der das Ding oder Wesen fest wie in einem Futeral eingesenkt liegt.“* Das sind die ersten Annäherungen an einen Begriff, den er später in der Abhandlung über das „Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ präzisierte und dort als ein Phänomen der Kunst und der Natur betrachtete: Die Aura sei eine „einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag … Das wesentlich Ferne ist das Unnahbare.“** Solche prinzipielle Unnahbarkeit entdeckt der Mensch in Zeiten der unmittelbaren Ansteckungsgefahr an sich selbst wieder, auch wenn er sich schwertut, sie als eine Auszeichnung zu akzeptieren, die Vorsicht und Respekt, Diskretion und Distanz gebietet. Sie ist natürlich nicht identisch mit dem aktuellen Abstandsgebot und hat nichts unmittelbar gemein mit der Vorsorge bei einem großen Infektionsrisiko. Aber all die Grenzmarken – wie in den Läden auf dem Boden vor den Kassen, am Wochenmarkt als Abstandsstreifen vor den Waren, um die Spielplätze herum, die als Sperrzonen gekennzeichnet sind, selbst der textile Mund- und Nasenschutz – mögen auch daran erinnern, dass nicht nur erhabene Formen in der Kunst, in der Natur oder Religion Erscheinungsweisen sind, denen man zu nahe kommen kann, sondern auch Individuen. Der Mensch ist nicht nur ein zoon politikon, das sich sozial organisiert, sondern in vielerlei Hinsicht ein Distanzwesen, das Übergriffigkeit empfinden kann und sich gegen sie mit Fug wehrt. Und dem entsprochen wird, indem Rituale der Höflichkeit nicht übersprungen werden, Fragen und Rückfragen anzeigen, was Wachsamkeit und Aufmerksamkeit, Fürsorge und Rücksicht bedeuten. Social distancing wäre nicht nötig, wenn jeder den anderen zugleich auch als Fremden ansehen könnte, trotz aller Ähnlichkeit, ihn in seiner Andersheit wertschätzte und dies vor allem Hang zur Nähe und in allen Formen der Nähe als Zeichen der Menschlichkeit verstehen könnte.
* Gesammelte Schriften Band VI, 588
** Ebd. I.2, 480
Bleiben Sie gesund!
In Zeiten, in denen die Krankheit allgegenwärtig ist, rückt der gesunde Menschenverstand in die Nähe eines medizinischen Befunds. Er ist nach gewöhnlicher Lesart das, worauf noch jeder sich berufen und den anderen erinnern können sollte, ein Mindestmaß an Einsichtsfähigkeit, das Erfahrungen zu Beurteilungen leichthin umformt. An ihm zu zweifeln wie an ihn appellieren zu müssen, mag ein Hinweis sein darauf, dass auch das Selbstverständliche sich nicht von selber versteht. Noch im achtzehnten Jahrhundert wurde der gesunde Menschenverstand mit dem sensus communis, dem Gemeinsinn, synonym verwandt, also jener Art des Denkens, die über das Eigene, die engen egoistischen und geistesbeschränkten Perspektiven hinaussieht. Immanuel Kant hat in seiner „Kritik der Urteilskraft“ ihn auf dreierlei Art beschrieben: „1. Selbstdenken; 2. An der Stelle jedes andern denken; 3. Jederzeit mit sich selbst einstimmig denken.“* Muss man noch hinzufügen, worauf es jetzt ankommt?
* KdU § 40
Schnell und unbürokratisch
Schnell und unbürokratisch, die in bester Absicht formulierte Eigenschaftsformel der Akuthilfe, bezeichnet nicht nur den Weg, über den Leistungen ungehindert den erreichen sollen, der sie dringend benötigt. Es ist nolens volens auch die versteckte Kritik an den Arbeitsroutinen von Behörden und Institutionen, deren bewährte Entscheidungsprozesse über Verwaltungsstrukturen so abgesichert sind, dass kein Einzelner einen bindenden Entschluss jenseits der vorgezeichneten Angebote treffen muss. Hätten sie wirklich so zu handeln, wie es Zeiten der Not unmittelbar gebieten, führte das in den Ämtern zur Auflösung der Zuständigkeiten. Das aber würde nicht die Verantwortlichkeit befreien, sondern als Entrée in die Desorientierung begriffen. Keiner hülfe, weil er fürchten müsste, Falsches zu beschließen, wenn ihm die vertrauten administrativen Methoden genommen sind und zwischen Anordnungen und Maßnahmen im Dienstverhältnis nicht vorkommt, für ein Urteil persönlich einzustehen.
Isolation
Die Insellage, mit der bei Reisen und in Immobilienportalen in heiteren Zeiten als Attraktion geworben wird, hat sich zur gefürchteten Perspektive gewandelt. Isolation, vom lateinischen insula abgeleitet, beschränkt die Vorstellung einer Existenz unter Voraussetzungen der Abgeschiedenheit auf deren hässliche Aspekte: das Alleinsein, die Einsamkeit, den Verlust von Nähe. Insulae, das waren im alten Rom die ersten Hochhäuserblocks, mehrstöckige Gebäude, meist rechtwinklig angeordnet, die wegen der Wohnungsnot innerhalb der Stadtmauern von den Architekten geplant und zur Miete vergeben wurden. So hatten die selbstgestalteten insulae nichts von jener prospektglänzenden Idylle, mit der Fernziele verlockend angepriesen werden. Anders als auf den Eilanden im Meer richtete sich der Blick in den insulae nicht gen Horizont, sondern vertikal aus, nach oben und unten, weil rechts und links nicht genügend Platz war. Sie sind das, nicht nur sprachliche Vorbild der Isolation. Orte, von denen aus das Sehen, die erste Form der Kontaktaufnahme mit anderen, höchst eingeschränkt war. Ob solche Insellagen, ob die Distanzierung von Menschen untereinander angenommen wird, ja gar als Entfaltungsform des Menschlichen betrachtet werden kann, hängt weniger an der Art des Lebens, abgeschottet zu sein, als vielmehr an einer geistigen Variante des Sehens, der Perspektive, die mit der Klausur, selbstgewählt oder verordnet, verbunden ist und zu der elementar gehört zu wissen, wie lang sie dauert. Gerade weil wir in einer und als Gesellschaft nicht isoliert nebeneinander leben, gelingt Isolation nicht allein, wenn wir verstehen, was geschieht, sondern erst dann, wenn wir uns darüber gemeinsam verständigen können.
Freie Gesellschaft
Das ist das Wesen einer selbstbestimmten Gesellschaft, dass sie nicht nur von ihrer Freiheit sinnvoll Gebrauch macht, sondern auch von ihrer Vernunft, die diese Freiheit angemessen zu begrenzen weiß.
Zwei Wochen, mehr nicht!
Der Umgang mit dem Unsichtbaren erlaubt kein reaktives Handeln. Nicht zu wissen, womit wir es genau zu tun haben und wann Vorsicht geboten ist, wann Erleichterung oder Entlastung erlaubt, diese abstrakte Gefahr, die tief einschneidende Wirkungen zeitigt, wird nur überwunden durch Disziplin, Selbstdisziplin. Zwei Wochen Abstand, jeder von jedem, zwei Wochen eine radikale Unterbrechung des Weltgeschehens, der Lebensgewohnheiten, der Bewegungsfreiheit, diese Zeit genügte, um das Virus verschwinden zu lassen. Es hätte keine Chance, sich zu erhalten. Das muss man sich klarmachen: Wir sind es, die dem Krankheitserreger zur Existenz verhelfen, und zu seiner zerstörerischen Macht. Niemand sonst. Zwei Wochen absolute Pause, sagen die Virologen; und die Welt erholte sich rasch. Ein kleiner Preis angesichts der Kosten, die die Pandemie jetzt schon verursacht hat. Im Testament, das zu lesen in die Tagen mehr denn je lohnt, findet sich der Satz: „Aber diese Art fährt nicht aus denn durch Beten und Fasten.“ (Matth. 17, 21) Es ist die Antwort des Weltenretters auf die Ratlosigkeit seiner Gefolgschaft, der nicht gelungen ist, einen Menschen zu heilen. Verwurzelt in der antiken Vorstellung von der Dämonisierung der Kranken, enthält das Wort mit dem Verweis auf Formen der Vereinzelung – jeder betet und fastet für sich – die Perspektive der Befreiung. Das Gespräch soll aufhören zu irrlichtern, nicht hier, nicht dort stattfinden, sondern still werden, theologisch: sich für einen längeren Augenblick auf Gott konzentrieren. Und die Lebendigkeit des Lebens soll für einen sinnvollen Moment auf das Notwendige sich reduzieren. Beten und Fasten, anders geht es nicht; in der säkularen Variante: unbedingt darauf setzen, dass es mit dem Abstand vom Alltag, mit heilsamer Distanz gelingt. Jesus diagnostiziert seinen Jüngern in dieser Geschichte Unglauben und spiegelt ihn an der bekannten Verheißung, dass der Glaube Berge versetzen könne. Es ist der Appell an das Vertrauen, das die einzige angemessene Entsprechung zum Unsichtbaren ist. Zwei Wochen, mehr nicht.
Krisenmanagement
Die öffentliche Begleitung einer Großkrise gelingt in dem Maße, wie sie die beiden Ebenen des Faktischen und des Symbolischen gleichermaßen bespielt. Ein klares Wort zur Sache, der Verzicht aufs Beschönigen, die Nüchternheit in den Urteilen, Zweifeln, Abwägen, Einschätzen, das alles gehört zum kritischen Umgang mit der Situation. Mindestens so entscheidend aber ist das Verhältnis, das Experten und Politiker coram publico zur Lage entwickeln und zeigen: die Besonnenheit, Entschlossenheit oder Behutsamkeit, zum Verstehen auch das Verständnis, Mut und Trost. Die Tatsachen dürfen die Einstellungen nicht hindern; die Deutungen die Daten nicht korrumpieren. Der Weg wird zum schmalen Grat, wenn die wirkliche Entwicklung Anlass gibt zu einer Angst, die aber nicht sichtbar sein darf, weil sie die Bewältigung des Notstands erschwert. Und alle sehen, wie das eine das andere beeinflusst.