Ohrenlider

Zu den kaum vermeidbaren Ärgernissen einer Fahrt in öffentlichen Verkehrsmitteln gehört seit jeher das lautstarke Gerede einzelner, zuweilen über viele hundert Kilometer, durch das sie den Rest eines Abteils in eine ungewollte Aufmerksamkeit zwingen. Mit dem verstärkten Einsatz von Großraumwagons bei der Bahn ist zwar die Rücksicht solcher ungehemmten Liebhaber des ungepflegten Monologs nicht gewachsen, aber deren Wirkungsgrad. So mancher unter all denen, die sich diesem Wortschwall wehrlos ausgesetzt sehen, mag sich fragen, ob diese großen Kommunikatoren nur berauscht sind von der eigenen Stimme, ob sie glauben, allein durch Satzmasse das Gegenüber beeindrucken zu können, ob sie nicht verstehen, dass noch das blödeste Reden Gehör finden will – und nicht den drängenden Wunsch erzeugen, es möge ein für allemal verstummen. Was hat es evolutionsbiologisch zu bedeuten, dass wir zwar mit Augenlidern ausgestattet sind, nicht aber mit Ohrenklappen (von Nasenfiltern ganz zu schweigen)? Wer hat da geschlampt? Wenn es die natürliche und überlebensnotwendige Bereitschaft ist, jederzeit zurückgerufen werden zu können aus Schlaf- und Dämmerzuständen, dann vergeht sich der reisende Dampfplauderer an einer unserer größten Begabungen: dem Talent, aufgeweckt zu sein.