Schuldverhältnisse

Aus der Berggasse 19 in Wien erreichte im Januar 1898 Josef Breuer ein Brief, in dem der Absender sich ausführlich über Schuldverhältnisse erging. Sigmund Freud hatte ihn unmittelbar nach dem Dreikönigsfest geschrieben. Die beiden Ärzte waren einander früh verbunden über die Behandlung von Anna O., die so in den Studien hieß, welche zum Anlass wurden, das sonst als nervöses Leiden diagnostizierte Verhalten psychoanalytisch zu untersuchen. Im Schreiben offenbarte sich Freud dem Kollegen, von dem er sich in den ersten Jahren seiner beruflichen Praxis immer wieder Geld geliehen hatte. Und annoncierte die Rückzahlung eines Teilbetrags. Ausführlich geht er ein auf die Umstände, die ihn bewogen hatten, um ein Darlehen zu bitten. Und die ihn wiederum hinderten, von seinen Patienten zureichend hohe Honorare einzufordern. Nicht zuletzt sorgte die Unsicherheit über Behandlungserfolge und die Unmöglichkeit, eine Behandlungsdauer vorauszusagen, für monetäre Engpässe. Das hat mit der Eigentümlichkeit der Psychoanalyse zu tun, die Freud später veranlasste, von einem „unmöglichen Beruf“ zu sprechen. Da der Klient selber das Ende der Sitzungen bestimmt und selber entscheidet, wann er sich als „geheilt“ der Therapie entzieht, lässt sich keine wirtschaftlich zuverlässige Planung erstellen. In den ersten Jahren war noch nichts über Abhängigkeitsverhältnisse bekannt, nichts über die Probleme von Übertragung und Gegenübertragung, nichts über die Bodenlosigkeit seelischer Untiefen, so dass die Behandlung als tragfähiges „Geschäftsmodell“ für den Arzt hätte eingestuft werden können. Freud war also dankbar gegenüber dem verständnisvollen Kollegen und konnte auch darauf zählen, einen Gleichgesinnten in der Sache gefunden zu haben. „In dem einen Punkte wenigstens bekennen wir uns zu derselben Ansicht, dass uns beiden Geldbeziehungen nicht die wichtigsten im Leben … zu sein scheinen. Dass ich von dieser Lehre aktiv und passiv Zeugenschaft ablegen musste, als Nehmer und als Geber, während Sie sich auf den aktiven Beweis beschränken durften, das pflegten Sie selbst immer als Sache des Glückes, nicht des Verdienstes darzustellen.“* Freud wusste sich so entlastet, durch Einführung einer Instanz, des Glücks, die alle Zurechenbarkeit ausschloss. Und mag nicht zuletzt am Umgang mit Geld gelernt haben, worauf es bei Schuldverhältnissen entscheidend ankommt, will man in ihnen frei und souverän, also menschlich leben: dass man eine Erzählung findet, in der Schuld zwar individuell, aber nicht persönlich genommen werden muss.

* Sigmund Freud, Briefe 1873 – 1939, 246f.