Stimmen der Zeit

Unter den Stimmen der Zeit, die mehr ein Gewirr darstellen, als sich in ihrer Vielfalt auszubilden, bringt sich die des Glaubens nur leise zu Gehör. Das mag an der Überraschungsfreiheit liegen, die den Sonntagsreden vieler Theologen eignet, weil sie von einer formelhaften Antwort her entwickelt werden, ist aber auch ein überlieferter Modus des Gottesworts selbst (1. Könige 19, 12). Zu dieser Zurückhaltung gehört allerdings nicht der Verzicht, sich zu äußern. Sie könnte sich vielmehr in der Gedankenschärfe und Kompromisslosigkeit, in der mit List und Härte öffentlich vorgetragenen Offenlegung jenes Weltorts zeigen, an dem Menschen ihre eigene Ratlosigkeit nur so zu formulieren wissen, dass sie des Trosts und der Erlösung bedürftig sind. Der nämlich liegt weit jenseits der Felder, auf denen Probleme gelöst und Fragen beschwichtigt werden können. Da hätte sich Dezenz in Demut verwandelt und die große Gebärde in die selbstbewusste Bitte. In welchem Medium hätte Platz, dass „alle Fragen offen“* bleiben, weil sich diese Unbestimmtheit nicht durchs Reden beheben lässt?

* Mit dieser Formel aus einem Stück von Bertolt Brecht (Der gute Mensch von Sezuan, Epilog – „Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen“ , Ausgewählte Werke in sechs Bänden, 2, 294) beendete Marcel Reich-Ranicki seine Moderationen des „Literarischen Quartetts“.