Streiten lernen!

In einer Gesellschaft, die das Streiten verlernt hat, weil sie dessen Formen und Voraussetzungen nicht beherrscht, bilden sich Verachtung, Intoleranz, Hass und Pöbelei aus und reklamieren für sich das moralisch überlegene Recht des Guten. Solche abfälligen Reaktionen können zuverlässig mit der Hilflosigkeit derer rechnen, die kaum noch ahnen, welche Schönheit und Befreiung in einer klugen Auseinandersetzung stecken. Nur keine Unruhe! Das ist das Leitmotiv jener Harmoniebedürftigen, die Einseitigkeit nicht für die notwendige Begleiterscheinung einer wohlüberlegten streitbaren Position halten, sondern für einen Frevel an der Vielgestaltigkeit der Welt. Ihre intellektuelle Geräuschlosigkeit solidarisiert sich allzu rasch mit dem Krawall, der die Provokation, die durch nichts als den klaren Gebrauch von Vernunft entsteht, höhnisch niederbrüllt, eine Herausforderung, die schon deswegen als unvernünftig gilt, weil sie – seltsam zu sagen – zur Reflexion reizt. Die Sache wird sofort persönlich genommen; man scheint nichts mehr zu wissen von der Überzeugungskraft triftiger Gründe. Der allzu laute Widerspruch wird mit vorauseilendem Gehorsam kleinlaut beantwortet durch Zurückhaltung im Denken.