Toleranz, eine Paradoxie?

Von Karl Popper, der die Bedingungen einer offenen Gesellschaft untersuchte, ist der Satz überliefert: „Alle Theorien der Souveränität sind paradox.“* Man muss ihnen Bedingungen zuschreiben, die undemokratisch, interolant oder nicht souverän zu sein scheinen, um jene Freiheit zu bewahren, die mit der Verabsolutierung von Freiheit auf dem Spiel steht, die, das wusste schon die Antike, sich ja auch so frei zu sein dünken könnte zu entscheiden, dass sie sich selbst aufgibt. Ist das schon eine Paradoxie, also ein Selbstwiderspruch im strengen Sinn?

Auf dieses Paradox berufen sich jetzt viele, die ein Gespräch verweigern, der vernunftgeleiteten Auseinandersetzung aus dem Weg gehen, weil sie von vornherein annehmen, dass der Gegner unduldsam ist im strengen Sinn, verbohrt, gewaltbereit, Gesinnungstäter. Mit dem anderen könne man nicht reden, heißt es, es lohne die Mühe nicht, er sei nicht aufgeschlossen für rationale Argumente. Da höre die Offenheit eben auf. Ungeachtet der Frage, ob es logisch exakt sich wirklich um ein Paradox handelt, wenn die Bestimmtheit einer Vorstellung davon abhängt, dass man sie nicht ins Grenzenlose zu dehnen versucht, treffen sich in der Gesprächsverweigerung Andersdenkenden gegenüber vor allem zwei Unversöhntheiten in der Position, die jeweils das markieren, was Popper für den Schaden schlechthin hielt in der Rationalität: deren Hang zur Verabsolutierung. Hier wie dort regiert die Intoleranz; da ist keiner strukturell in der moralisch oder politisch besseren Lage.

Die prinzipielle Schwäche einer offenen Gesellschaft, auf Bedingungen zu fußen, die der Offenheit Grenzen setzen, fordert den Willen heraus, diese Grenzen auszuhandeln, um sie in ihrer Stärke zu identifizieren. Intolerant verdient nicht jener genannt zu werden, dem man sie aufgrund von im Zweifel berechtigten Interessen schlicht unterstellt; sie ist ein Frustrationsmerkmal, ein Resultat – nicht unendlicher, aber – geduldiger Streitversuche. In Freiheitsräumen gilt, dass man schon genau sagen können muss, warum einer als Feind der Freiheit ausgemacht wird, was voraussetzt, dass man ihm die Freiheit lässt, sich zu artikulieren. Da herrscht nur die Überzeugung, dass Argumentation der beste Ort ist, an dem gewaltfrei gehandelt werden kann. Nur wer sich der Kraft guter Gründe im Letzten verweigert, hat sich aus dem Spiel genommen und sich selbst in den Verdacht gestellt zu betreiben, was Freiheit als Vermeidungsform des Lebens unbedingt ausschließen muss: dass sie bedroht wird von jenen, die sie für sich unbedingt reklamieren.

*  Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, 174; s.a. 358ff. – Dort beschreibt Popper genauer die Grenzen der Toleranz: „Weniger bekannt ist das Paradoxon der Toleranz: Uneingeschränkte Toleranz führt mit Notwendigkeit zum Verschwinden der Toleranz. Denn wenn wir die uneingeschränkte Toleranz sogar auf die Intoleranten ausdehnen, wenn wir nicht bereit sind, eine tolerante Gesellschaftsordnung gegen die Angriffe der Intoleranz zu verteidigen, dann werden die Toleranten vernichtet werden und die Toleranz mit ihnen.“