Totale Transparenz

Unter den Heilswörtern, mit denen wir die eigene Lösungskompetenz unter Beweis stellen, hat sich die „Transparenz“ in den vergangenen Jahren eine Sonderstellung erworben. Was ist nicht alles auf dem Wege der Besserung, sobald es nur vollkommene Offenheit im Umgang mit denen pflegt, die sich hintergangen fühlen: Geheimdienste sollen so politisch akzeptabel werden, die Parteien bürgernäher, die Banken ehrlicher, die Energieindustrie preissensibler, die Lebensmittel gesünder, Beziehungen fester. Die Regel lautet: Je größer Transparenz, desto stärker das Vertrauen. Verwundert erinnert sich der halbwegs kundige Leser abendländischer Gründungsmythen an jene Geschichte, in der die Schlange dem Menschen totale Transparenz versprach: Die Verlockung des Verführers, es könne das Geschöpf die Welt so durchschauen wie Gott, wenn es nur von der verbotenen Frucht des Gartens äße – wird sie nicht als der Anfang des Schlamassels dargestellt und nicht als das Ende des Misstrauens? In dieser Erzählung mag sich die schon früh gewonnene Grundeinsicht verdichtet haben, dass noch kein einziger Zuwachs an Information zerstörtes Vertrauen im ganzen wieder hergestellt hat. Gewachsen ist dadurch nur die Zahl der Missverständnisse.