Verhältnismäßigkeit

Die Zeit kommt, in der die Aufmerksamkeit, die gebannt ist von der einen Ansteckungsreihe, der medizinischen, und die es zu unterbrechen gilt, sich hinwendet zur anderen epidemischen Infektionskette: der, über die ein auch gefährlicher Erreger springt von der Massenerkrankung, der Aufhebung von elementaren Rechtsgrundsätzen auf die Volkswirtschaft, von dort über Versorgungsengpässe hin zu gesellschaftlichen Unruhen, in denen zunächst die Kranken geächtet werden und dann jeder gegen jeden sich aufrichtet, weil er um sein eigenes Überleben fürchtet.
Wo mobile Ambulanzen, die alte Patienten transportieren, vom steinewerfenden Pöbel aufgehalten werden, sind neben die leuchtenden Signale der Solidarität düstere Anzeichen von Anarchie gesetzt. Es ist der Moment, in dem die Angst, dass alle gleichermaßen getroffen sein könnten von einem feindlichen Virus, sich auflöst in die Ängste der vielen, die unterschiedlich stark mit den Auswirkungen der Krise zu kämpfen haben, den finanziellen wie denen, die unsere Freiheit beschränken. Und die jetzt mutmaßen, es könnte die radikale Bekämpfung des Notstands, nach einem alten Aphorismus von Karl Kraus*, die Krankheit sein, für deren Therapie sie sich hält.
Nun sind Differenzierungen ein Indiz von Klugheit, auch im Umgang mit Katastrophen. Und die Gleichsetzung ist nichts, was ohne die Angabe einer Bezugsgröße sinnreich sein kann: Wir sind gleich vor dem Gesetz, vor dem Tod, vor Gott. Was eine ungleiche Behandlung von Aufgaben, Fragen, Problemen nicht ausschließt, sondern als deren Bedingung gilt. Sind wir aber auch gleich vor der Krankheit? Die Einteilung in Risikogruppen markiert nicht nur uneinheitliche Gewichtungen, die unmittelbar der fatalen Statistik folgen, sondern auch den Ausgangspunkt einer Selektion in bester Absicht fürs große Ganze, der Wirtschaft und Gesellschaft, die im Einzelfall höchst zweifelhaft ist.
Dass Menschenleben nie gegeneinander verrechnet werden dürfen, ergibt sich aus einer fragilen Zuschreibung, die das Grundgesetz unter den Stichworten „Würde“ und „Unantastbarkeit“ zusammenfasst und die den alten Grundsatz von Immanuel Kant aufnimmt, nach dem jeder von uns als ein Individuum anzusehen sei, das „niemals bloß als Mittel“** zu betrachten ist, das für höhere Zwecke geopfert werden darf. Geschieht das nicht längst, wo Ärzte mangels Ausrüstung verzweifelt entscheiden müssen, wem die Hilfe gewährt wird? Und geschähe das nicht in dem Augenblick, in dem ausgewählt (nach welchen belastbaren Kriterien, wenn längst auch Jüngere in signifikanter Zahl ernsthaft erkranken?) und die Gleichheit vor dem Gesetz aufgehoben würde? Verwandelte sich die Bezeichnung „Risikogruppe“, die den besonderen Schutz herausfordert, nicht unterschwellig in eine boshafte Identifikation jener, die eine ganze Ökonomie riskierten, wenn sie nicht in ihren Bewegungsräumen strikt eingehegt würden? Wären die Gefährdeten dann nicht auch die Gefährder?
Der Pragmatismus, der seine gesammelten Vorzüge in den Stunden der Krise brillant auszuspielen vermag, hat wie alles, das vom eigenen Erfolg getragen wird, einen Hang zur Verabsolutierung. Als dessen Korrektiv, das solche Unmäßigkeit verhindert, muss das Prinzip der Selbstzwecklichkeit des Menschen gesehen werden, nicht als der bornierte Ausdruck eines besserwisserischen Philistertums. Nein, es geht auch hier nicht um Pedanterie im Großen, sondern um eine Beschränkung, um die strikte Erinnerung an jene Vorsicht, sich nicht, trotz des hehren Willens zu retten, was zu retten ist, versehentlich anstecken zu lassen allein von Nützlichkeitserwägungen im Heiligsten, der letzten Unberührbarkeit des Lebensgeheimnisses, das sich in unserer Freiheit, als Vernunft, in der Vorstellung der Würde manifestiert. Das trägt nicht immer zur Klarheit bei, leitet in tragischen Momenten nicht eindeutig an, aber es kann als ein untrügliches Regulativ wirken, das selbst in der unauflösbaren Problematik den Zwang zum Entschluss nie leichtfertig sein lässt. Und ihm in dieser Last das Versprechen beigibt einer Erträglichkeit, die mit dem Maß der Verantwortung steigt.
Diese Demut, die sich im Umgang mit Fragen zeigt, von denen wir nicht einmal sagen können, sie seien falsch, sollte in die Zurückhaltung münden, wenn jene ernsten Antworten auf sie gegeben werden müssen, von denen wir schon deswegen nicht behaupten mögen, dass sie je richtig sein könnten.

* „Psychoanalyse ist jene Geisteskrankheit, für deren Therapie sie sich hält.“ – Nachts, A 1684
**„Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ – Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 66