Was wäre, wenn

Die Sonntagsfrage, die zwar so heißt, als verkünde sie Wahrheit direkt aus dem Unterricht der religiösen Sonntagsschulen, die aber nur den politischen Wählerwillen statistisch erkundet, indem sie jetzt zur Entscheidung stellt, was viel später wirklich beschlossen wird, veranlasst Parteien und Protagonisten, verführt durch den Irrealis in der Formulierung, zu bemerkenswerter Realitätsverweigerung. „Was wäre, wenn“ das Parlament zur Neuaufstellung stünde, dieses Gedankenspiel ruft die Schönfärber desaströser Lagen auf, wie die Warner, das aktuelle, rosarote Stimmungsbild nicht schon als den Erfolg selber zu buchen. Alles könne noch anders kommen, heißt es in Übereinstimmung mit der trivialsten Einsicht in das, was Zukunft bedeutet. Wie wahr. Verdrängt wird das Maß des Korrekturpotentials, das denen bleibt, die sich als Kandidaten haben aufstellen lassen, hier als Chance aufzuholen, dort als Drohung, noch abgestraft zu werden. Das ist oft kleiner als erhofft, manchmal befürchtet. Denn anders als der Zeithorizont vieler Politiker, der, in Wahljahren sonderlich, gerade mal zu opportunistischem Handeln im Augenblick taugt, reicht der des Wählers weit über den Moment hinaus. Dass dieser auch Monate später nicht vergisst, gehört zum Unvorstellbaren vieler, die selbst dort auf Monate hinaus nicht perspektivisch denken, wo es geboten wäre. Das Nicht-Vergessen-Können ist als Figur der langen Frist die genaue Entsprechung zu einer Strategie, nur dass diese nach vorn gerichtet ist. Deren Fehlen bleibt als Leerform im Gedächtnis. Die Erinnerung ist der Schatten des Visionären. Zu hoffen, dass am Wahltag alles sich ganz anders verhalte, mag jenseits des „Wunderwerks der Banalität“ (Georg Simmel) ein unerfüllter Wunsch bleiben von Günstlingen der Gelegenheit, die ihren eigenen Mangel an Langfristigkeit verwechseln mit der Labilität des Volks.