Wir sind das Volk

Zwischen dem Volk und seinen Vertretern, die es in den Parlamenten politisch repräsentieren, herrscht bei allem souveränen Willen, der sich in Wahlen ausdrückt, und der Delegation dieser Vorstellung in den Mehrheitsverhältnissen vor allem eine heimliche Verachtung. Sobald sie regieren, stehen die Abgeordneten im Dauerverdacht, auf Bürgeransinnen kaum noch Rücksicht zu nehmen, und die Politiker reagieren umgekehrt auf die Artikulation solcher Absichten immer wieder mit Achselzucken, Kopfschütteln und Ignoranz, weil sie „das Volk“ in solchen Momenten für ungebildet, durchschnittlich, verführbar und verantwortungslos halten. Es ist ein altes Missverstehen, das sich in der wechselseitigen Geringschätzung ausdrückt. „Jede Interpretation der politischen Bedeutung des Wortes ,Volk‘ muss von der bemerkenswerten Tatsache ausgehen, dass es in den modernen europäischen Sprachen immer auch die Armen, Enterbten und Ausgeschlossenen bezeichnet. Dasselbe Wort benennt mithin sowohl das konstitutive politische Subjekt als auch die Klasse, die, wenn nicht rechtlich, so doch faktisch, von der Politik ausgeschlossen ist.“* Die Repräsentation in der Demokratie spiegelt diesen Zwiespalt wider: Sie beruft sich auf das Volk, das sie legitimiert, und beschränkt es zugleich, indem es viele seiner Forderungen zurückweist und ihnen die Anerkennung versagt.** Der Ruf: Wir sind das Volk, enthält also beides: die Erinnerung der Politiker an den Souverän und die genaue Selbstidentifikation als jene gesellschaftliche Größe, auf die keine Rücksicht genommen werden muss.

* Giorgio Agamben, Homo sacer, 186
** Philip Manow widmet in seinem gerade erschienenen Buch, (Ent-)Demokratisierung der Demokratie, diesem einschließenden Ausschluss und ausschließenden Einschluss des Volks ein kluges Kapitel: „Repräsentation wird also als Läuterungsprinzip verstanden. Sie erzeugt die Reinheit der Bedeutung. Im Begriff des Volkes wurde damit eine normative Größe installiert, durch die sich Ansprüche abweisen lassen, weil sie die Form ihrer Anerkennung verfehlen.“ (aaO. 46f.)