Worte, nichts als Worte

Aus dem noch ungeschriebenen Roman:

„Ich bin sprachsüchtig“ sagte sie und lächelte verlegen. Er war wieder einmal vorlaut gewesen, hatte sich über die vielen klugen Bücher belustigt, die sie in kleinen Türmen um sich herum auf dem Schreibtisch drapiert hatte wie die frühmittelalterlichen Hochbauten, die zum Schutz vor anrückenden Feinden in die Landschaft gestellt wurden. „Mich hat mal jemand so vorgestellt“, setzte sie noch einmal leise an, um den ungewöhnlichen Ausdruck zu erklären, „es war sehr liebevoll, vor einer kleinen Abendgesellschaft.“
Aber er war schon viel zu sehr in seinem Kampfmodus und konnte das gar nicht mehr richtig hören, wie er manchmal Sätze aufnahm, nur um sie zu widerlegen, um an ihnen einen überflüssigen Streit zu entfachen, gegen sie anzurennen im spitzen Wortgefecht, einem rechthaberischen Gedankenkrieg.
„Sprachsüchtig, aha. Das klingt wie eine Krankheit. Abhängig von Wörtern wie die Junkies von ihren Drogen.“ Aus jedem seiner wuchtigen Angriffe krochen Verletzung und Eifersucht hervor. Wie konnte ein anderer (welcher andere?) sie so genau erkennen – erkennen, ja, das verstand er immer in der alten Weise, wie Adam sein Weib erkannte in den Geschichten von den Urvätern. „Nehme an, dass du heute noch nicht genug bekommen hast an Wörtern, um deine Sprachsucht zu stillen.“
Er wollte schweigen, doch es brach aus ihm heraus. Während sie stets nach Wörtern lechzte, schönen, ungewöhnlichen, fremdklingenden, treffenden, beglückenden, anspruchsvollen, edlen Wörtern, konnte er seinen Redeschwall in solchen Momenten nicht bremsen. Alle seine ungeordneten Gefühle ergossen sich in einem breiigen Katarakt aus hässlichen, ätzenden, groben Bemerkungen. Sie wurde immer stiller, flüchtete sich hinter eine dichte Wand, die sie als Wall über die vielen Jahre ihrer Beziehung aufgebaut hatte, und vernahm bloß noch dumpfe, ferne Laute: „… hat dich wohl ins Bett geredet …, du und die Literatur …, die tägliche Dosis Grammatik …, Verbalerotik …, Kopula, haha, kopuliert …“
Plötzlich verstummte er. Er war sichtlich erschöpft. Ob er ihr leid tun sollte? „Weißt du, warum ich sprachsüchtig bin?“ unterbrach sie milde die eingetretene Stille. Sie ahnte, dass sie ihn jetzt erledigen konnte. Er hatte sich ausgetobt. „Es ist wie bei einer wirklichen Sucht. Im Augenblick der Befriedigung spürst du im Grunde, dass der elende Drang wiederkommen wird, stärker denn je. Ich bin sprachsüchtig, weil du niemals anderes für mich hattest als Worte, große manchmal, gewiss, betörende, phantasievolle, heitere. Alles gut. Doch es sind immer nur Hülsen aus Buchstaben gewesen. Wie eine Suchtabhängige habe ich mit der Zeit lernen müssen, diesen Wörtern, die mich für kurze Phasen beglückt hatten, nicht mehr zu glauben. Ich weiß inzwischen, dass sie nicht genügen. Aber, mein Schatz, ich will leben, verstehst du, nicht nur reden.“