Zufällig verpasst

Zum Wesen einer großen Stadt gehört die Zufallsbegegnung. Wo unwahrscheinlich ist, dass man einander ohne Verabredung trifft, wenn eine Million Menschen am selben Ort wohnen, arbeiten, sich bewegen, sorgt die Irritation, dass es dennoch geschieht, meist für erfreuliche Ablenkung. Städte faszinieren, weil sie das Leben unberechenbarer machen. Nun, da in Fußgängerzonen und auf Plätzen mit der Maske das halbe Gesicht zu bedecken ist, fallen viele dieser beglückenden Überraschungen aus. Das ist ein Nebeneffekt des Infektionsschutzes, nicht beabsichtigt, aber willkommen im konsequenten Kontaktvermeidungsverfahren: Man verpasst sich zufällig. Nicht nur dass es schwerer ist, an spezifischen Merkmalen den Bekannten zu identifizieren – plötzlich übernimmt der unverwechselbare Gang die Aufgabe für die verborgene Mundpartie. Der eigene Blick, und das ist befremdlich, richtet sich auch stärker nach innen, wenn das Antlitz hinter einem Stoffpartikel fast verschwindet. Die Außenwelt rückt in größere Distanz. Das Interesse an ihr wird kleiner. Am Ende riskiert eine Gesellschaft mit dem Ausfall zentraler sinnlicher Wahrnehmungsangebote das, was sie in Zeiten der Ansteckungsgefahr gerade besonders braucht: die Freude an reichen, zahlreichen und vielfältigen, Beziehungen. Auch die Solidarität, vielbeschworen in diesen Tagen, wird abstrakter.