Zur Freiheit, dieses oder jenes zu tun, gehört, nicht nur dieses und jenes zu lassen, sondern in einem umfassenden Sinn sich dem Tun überhaupt zu verweigern. Dieser Bequemlichkeitsaspekt einer Gestaltungsgelegenheit verabsolutiert Freiheit, treibt sie auf jene Spitze, wo sie in das Gegenteil ihrer selbst umschlägt. Es ist der Ort, an dem die Feinde einer freien Gesellschaft lauern, um diese von sich selbst zu „befreien“.
Monat: Juni 2025
Radikale Politik
Politisch ist Radikalität immer die Erwiderung auf einen gesellschaftlichen Status, der den Fortschritt bestimmt als Erweiterung, mindestens als Verteidigung von Besitzstandsansprüchen, der Gerechtigkeit auf ihre phantasieloseste Variante der Umverteilung von Gütern beschränkt, der meint mit alten Antworten neue Fragen gar nicht erst aufkommen lassen zu können. Wo so viel Borniertheit und Bräsigkeit sich um die Macht gelegt hat, bleibt einer Gesellschaft, die sich nicht einrichten will in, sondern ausrichten auf eine Welt, welche sich schneller verändert, als sie sich zu wandeln vermag, nichts anderes als der harte Schnitt. Das Problem ist nur: In solchen politisch entscheidenden Augenblicken gewinnt der Wunsch, dass es zum Bruch kommt, eine so große Relevanz, dass kaum noch eine Rolle zu spielen scheint, was nach der Zäsur kommt.
Lesestärke
Die allgemeine Unbeliebtheit des Lesens unter denen, die eine Universität besuchen und die Studierende zu nennen – zwar politisch korrekt ist, aber – nicht immer der Wahrheit entspricht, spiegelt ein tiefes Misstrauen gegenüber Texten, die – zwar zur Kenntnis genommen werden müssen, aber – oft nicht Erkenntnis vermitteln. Die allgemeine Unlust unter denen, die an einer Universität lehren und die Dozierende zu heißen – zwar zum Gestus der Sprachgerechtigkeit gehört, aber – nicht immer den Tatsachen adäquat ist, reflektiert das Schwinden eines Anspruchs, dessen Zumutungen – zwar noch geahnt, aber – nicht mehr für einlösbar gehalten werden. Beide, Schüler wie Lehrer, sind sich stillschweigend einig, dass das Versprechen von Bildung, einen Blick aufs Ganze anzubieten, von Schriftfragmenten nicht einzuhalten ist, die mit dem Gütesiegel, Wissenschaft zu sein, ihr Publikationsrecht gewährt bekommen haben, deren Lektürewert indes nicht selten höchst zweifelhaft ist. Warum sollte der eine einfordern, was der andere zu liefern sich nicht traut? Warum sollte hier etwas bearbeitet werden, was dort – zwar als Arbeitszeugnis produziert worden ist, aber – in Wirklichkeit nur ein Armutszeugnis darstellt?
Lebenselixier
Alles Lebendige entstammt dem Kontrast. Ein Dasein ohne das, was sich dagegengestemmt, ohne Wünsche und Widerwille, verdient nicht, lebendig genannt zu werden.
Das falsche Versprechen
Ideologien sind jene Antworten, bei denen man vergessen hat, wie die korrespondierenden Fragen einst lauteten, so dass sich auch nicht überprüfen lässt, ob andere (und bessere) inzwischen möglich sind. Nirgendwo sonst ist die Zahl der ungebetenen Ratschläge so hoch wie in Ideologien..
Schwere Kost
Die größte Tugend in Liebesbeziehungen und Freundschaften ist Enttäuschungsfestigkeit. Sie bewahrt vor Naivität und Zynismus gleichermaßen.
Friedensstiftung
Frieden, der seinen Namen verdient, ist nicht anders zu stiften als über einen ganz und gar riskanten Willen zur Versöhnung, dessen Offerte ein Maß an Verletzlichkeit mit sich trägt, das während der gesamten kriegerischen Auseinandersetzung zwischen den Gegnern hier wie dort nie gegeben war. Es ist die stärkste Geste, weil sie das stillschweigende Eingeständnis absoluter Schwäche voraussetzt.
Das ganz Andere
Aus der Sicht derer, die sich von Überregulierung, Verwaltungswillkür oder Behördenarroganz gegängelt wissen, ist der Veränderungsprozess, der mit dem Politikerwort „Bürokratieabbau“ gekennzeichnet ist, viel zu anspruchslos. Der Verfahrenheit der Situation, die sich über eine Mixtur aus Überforderung, Kleinlichkeit, niedrigen Machtgelüsten, Dummheit oder Aufgeblasenheit und, nicht zuletzt, der Angst vor dem Verlust der eigenen Position nicht zureichend präzise erklärt, entspricht der Zwang zu radikalen Lösungen. Hier neu anzufangen setzt den Verzicht auf Althergebrachtes voraus, selbst auf die Gefahr hin, dass für Momente zu wenig geregelt ist.
Ultimatum
Viel seltener, als es die Gewaltbereiten wild unterstellen, kommt es in Konflikten gelegentlich zur tödlichen Alternative: Du oder Ich. Die einzige Reaktion, die Erfolg verspricht, kann nur schnell und radikal sein. Wo die eigene Vernichtung unmittelbar droht, verliert das Recht seine Stärke an das Recht des Stärkeren. Es überlebt der Skrupelosere.
Von der Demokratie
Aus einer Samstagslektüre
„Schließlich will ich noch bemerken, daß keine Regierung in so hohem Grade Bürgerkriegen und inneren Erschütterungen ausgesetzt ist als die demokratische oder Volksregierung, weil keine andere so heftig und so unaufhörlich nach Veränderung der Form strebt und keine mehr Wachsamkeit und Mut zur Aufrechterhaltung ihrer bestehenden Form verlangt. Namentlich in dieser Verfassung muß sich der Staatsbürger mit Kraft und Ausdauer waffnen und jeden Tag seines Lebens im Grunde seiner Seele nachsprechen, was ein edler Woiwode auf dem polnischen Reichstage sagte: Malo periculosam vitam quam quietum servitium. (Ich ziehe eine gefahrvolle Freiheit einer ruhigen Knechtschaft vor.) Gäbe es ein Volk von Göttern, so würde es sich demokratisch regieren. Eine so vollkommene Regierung paßt für Menschen nicht.“*
* Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, III.4
Beckmesser
Der erste Leser eines Manuskripts sollte nie zu kritisch sein. Sonst würden keine Bücher erscheinen. Keine Zeit ist so fragil wie die unsichere Phase zwischen der Fertigstellung eines Textes und seiner Publikation.
Große Veränderung
Der Vorbote großer Veränderungen ist immer der gleiche Überdruss, das von ungezählt vielen heimliche Aufstöhnen, der Gedanke: Es wird sich nie was ändern.
Ode an die Melodie
Nur in der Musik gilt: Du kannst alles über sie wissen und nichts von ihr verstehen. Wie auch umgekehrt: Du kannst alles von ihr verstehen, auch wenn du nichts über sie weißt.
Reizend
So manchem Narzissten wird ein überaus charmantes Agieren nachgesagt, zumindest in der Phase einer Beziehung, in der noch nicht entschieden ist, wer sich wem unterwerfen muss. Das ist Teil eines hochtourigen Reizverlaufs, der darauf angelegt ist, sich nie zu langweilen. Ausgereizt kann schon deswegen nie das Kennzeichen eines Status sein, den der Narzisst selbst initiiert hat, weil er, schon um Langeweile zu vermeiden, in dem Moment, in dem es keine äußeren Steigerungen mehr geben kann, beginnt, wenn anderes durch neuerliche Reize nicht mehr erregt werden kann, sich einer selbstzerstörerische Steigerungsspirale zu überlassen, an deren Ende das absolute Gegenteil von dem steht, worum es ihm immer gegangen war – die grandiose Vernichtung des Ich.
Was erwartest du?
Nur wer enttäuschungsfest ist, kann auf Dauer noch Erwartungen hegen.
Zukunftszenario
Diese Welt wird nur überleben, wenn es dem Menschen gelingt, sich von sich selbst zu befreien.
Heißes Pflaster
Der heißeste Tag des Jahrs hält allzu viele nicht davon ab, der Stadt einen Besuch abzustatten, nach alter Samstagfrühnachmittagsgewohnheit zum sinnleichten Bummel über die Einkaufsmeile. Der Brutofen, auf gut fünfunddreißig Grad erhitzt, bringt die Luft zum Stehen zwischen den Betonmauern. Und verbackt die Menschen zu einer zähen Masse, die von hier nach dort kriecht. Viele mit vornüber gebeugtem Kopf, den Blick versonnen auf den Bildschirm des Smartphones gerichtet, gelegentlich ein Lächeln, das periphere Sehen ausgeschaltet, das Hirn eingeschmolzen. Am einen Ende der Straße traktiert der Saxophonspieler sein Instrument mit den drei immergleichen Melodien. Er hat Konkurrenz bekommen von einem mäßig begabten Liedermacher, mit Hannes Wader oder Reinhard Mey verbindet ihn nur der Songtext „Frieden“, den er ins billige Mikrophon grölt. Zwei Palästinenserfähnchen schwingen im gerade so gehaltenen Takt. Wieder ein paar Meter weiter dröhnt Hiphop aus den Boxen; eine kleine Gruppe Streetdancer übt sich ein ins Trinken, die Wodkaflaschen fast geleert. Zuletzt kämpft vergeblich ein vereinzelter Gerechter für Gerechtigkeit in irgendeinem südostasiatischen Land, von dem die allermeisten noch nie etwas gehört haben. Wie auf einer Wäscheleine hat er sein Programm seitenweise aufgehängt – keiner liest auch nur eine Zeile. Jeder steckt in seiner Welt fest; in Summe sind es viele tausend. Das Interesse an „der“ Welt? Nicht vorhanden. Fragte man sie später, was sie erlebt haben, erntete man nur Achselzucken oder einen abschätzigen Blick des Unverständnisses ob einer solchen Frage. Summer in the City, das ist auch alles, was diese Menschen noch verbindet. Nicht nur meteorologisch oder architektonisch, auch soziologisch ist das ein heißes Pflaster.
Ohne Hemmung
Aus einer Freitagabendlektüre
„Der Krieg, an den wir nicht glauben wollten, brach nun aus, und er brachte die – Enttäuschung. Er ist nicht nur blutiger und verlustreicher als einer der Kriege vorher, infolge der mächtig vervollkommneten Waffen des Angriffes und der Verteidigung, sondern mindestens ebenso grausam, erbittert, schonungslos wie irgendein früherer. Er setzt sich über alle Einschränkungen hinaus, zu denen man sich in friedlichen Zeiten verpflichtet, die man das Völkerrecht genannt hatte, anerkennt nicht die Vorrechte des Verwundeten und des Arztes, die Unterscheidung des friedlichen und des kämpfenden Teiles der Bevölkerung, die Ansprüche des Privateigentums. Er wirft nieder, was ihm im Wege steht, in blinder Wut, als sollte es keine Zukunft und keinen Frieden unter den Menschen nach ihm geben. Er zerreißt alle Bande der Gemeinschaft unter den miteinander ringenden Völkern und droht eine Erbitterung zu hinterlassen, welche eine Wiederanknüpfung derselben für lange Zeit unmöglich machen wird.“*
* Sigmund Freud, Zeitgemäßes über Krieg und Tod, in: Das Unbehagen in der Kultur und andere kulturtheoretische Schriften, 138f.
Aus der Grammatik der Klugheit
Das genaue Gegenteil von Klugheit ist gar nicht so ausgemacht, wie es den Anschein hat: Neben der Dummheit bieten sich auch an Maßlosigkeit, Arroganz und, im pejorativen Sinn, Naivität. Mit der Dummheit aber hat die Klugheit gemein, dass von beiden sinnvoll kein Plural gebildet werden kann. Die scheinbare Vielzahl, Dummheiten und Klugheiten, sind in Wahrheit Verniedlichungsformen, die selbst in Unzahl nie das Format erreichen, das das jeweilige Singularetantum, Klugheit und Dummheit, voraussetzen.
Nur keine Kompromisse
Man darf mit denen, die der Fähigkeit zum Kompromiss kompromisslos entgegentreten, keinen Kompromiss eingehen. Einmal muss die Demokratie sich selbst verraten und zur Diktatur werden: beim Angriff derer, die die Demokratie verraten und eine Diktatur wollen. Mittäter sind oft die, die nichts tun.
Das Problem der Probleme
Zivilisation bedeutet die Fähigkeit, ihre Probleme so auszuformulieren und einzuschränken, dass Gewalt sich nie als Lösung anbieten kann.
Das große Ich
Zur Größe des Ich gehört, dass es mehr sieht als sich selbst. Es kommt nicht darauf an, das eigene Ich aufzublähen, sondern es zu überschreiten. Du und Wir, der Andere, das Fremde machen das Ich nicht klein, sondern bereichern es.
Geist
Es gibt eine Freude, die einen Menschen auch dann erfüllt, wenn ihm das Lachen vergangen ist.
China feiert die Bombe
Aus einer Samstagslektüre
„Die erste chinesische Atombombe detonierte am 16. Oktober 1964 bei Lop Nor in der Wüste Gobi. Die Seidenstraße hatte durch dieses Gebiet geführt und Zentralchina über die weiten Kontinente Europas und Asiens hinweg mit der Mittelmeerküste verbunden. Durch diese unfruchtbare und unbewohnte Wüste waren einst Seide, Gewürze, Edelsteine, Kunst und Kultur mit all ihrer Pracht und Herrlichkeit transportiert worden – ein Austausch, der die alten Kulturen angeregt und ihnen neues Leben eingehaucht hatte. Lop Nor hatte also schon zahlreiche Anstöße und Anregungen erfahren. Nun, fast zwei Jahrtausende später, war es die Wiege für einen anderen ,großen Knall‘, einen von Tod und Zerstörung.
Das Atomtestgelände war ursprünglich von den Sowjets ausgewählt worden. Dort hatten Ingenieure der Armee, Wissenschaftler und Arbeiter jahrelang in Lehmhütten und Zelten in völliger Abgeschiedenheit gelebt und Sandstürmen, glühender Hitze und eisigen Winden getrotzt.
Am Tag der Detonation wartete Mao auf den bedeutenden Augenblick in seiner Suite in der Großen Halle – die auf den Namen ,des Volkes‘ getauft war, obwohl sie für jeden, der nicht eingeladen war, unerreichbar war. Sie lag am Platz des Himmlischen Friedens nur einen Steinwurf vom Regierungsviertel Zhongnanhai entfernt und war so gebaut, dass sie jeder Form von Militärangriff widerstehen würde; es gab sogar einen Atombunker. Die Suite, die ganz auf die Wünsche Maos zugeschnitten war, trug im Rahmen der üblichen Geheimnistuerei den Codenamen Suite 118. Mao konnte sie direkt mit dem Auto erreichen. Innen führte ein Fahrstuhl zu einem Fluchttunnel, breit genug für zwei Lastwagen nebeneinander, der zu den unterirdischen Militärzentralen am Stadtrand von Peking verlief. Direkt neben der Suite befand sich die Bühne eines gigantischen Auditoriums, sodass Mao auftreten und wieder gehen konnte, ohne engen Kontakt zum Publikum aufnehmen zu müssen.
An jenem Tag warteten neben Maos Suite 3000 Darsteller, um ein musikalisches Ausstattungsstück ,Der Osten ist rot‘ zur Aufführung zu bringen; es war von Chou En-lai inszeniert und sollte den Mao-Kult fördern. Der Titel war der ,Mao-Hymne‘ entnommen worden:
Der Osten ist Rot,
Die Sonne ist aufgegangen,
China hat einen Mao Tse-tung geboren.
Er hat sich dem Wohle des Volkes verschrieben,
Er ist des Volkes großer Retter.
Sobald bestätigt war, dass der Test erfolgreich verlaufen war, setzte die Musik ein, helle Lichter erstrahlten und Mao trat breit lächelnd auf die Bühne, flankiert von der gesamten Parteispitze. Er winkte den 3000 Darstellern und gab Chou En-lai ein Zeichen zu reden. Chou trat vor die Mikrofone: ,Der Vorsitzende Mao hat mich gebeten, euch eine gute Nachricht mitzuteilen…‘ Dann verkündete er, dass die Atombombe gezündet worden war. Die Menge schwieg; die Zuschauer wussten nicht, wie sie reagieren sollten, man hatte ihnen keine Anweisung erteilt. Chou half nach: ,Ihr könnt nach Herzenslust jubeln, springt nur nicht durch die Decke!‘ Woraufhin alle zu schreien begannen und in offensichtlicher Hysterie auf und ab hüpften. Mao war der einzige Staatschef auf der Welt, der die Geburt dieses Monsters der Massenvernichtung mit einem Festakt feierte. Für sich verfasste er einen zweizeiligen Knittelvers:
Atombombe geht los, wenn man es ihr sagt.
Ah, welch grenzenlose Freude!“*
* Jung Chan, Mao, 632f.