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Zu abstrakt

Die leichthin vorgehaltene Kritik, ein Gedanke sei zu abstrakt, in Ermangelung von Lebensnähe oder Praktikabilität, verkennt den Sinn von allgemeinen Aussagen. Sie handeln stets von Gesetzen, Mustern, Formen der Verbindlichkeit und geben neben der präzisen Verortung einer Idee zur besseren Orientierung in einer Art Koordinatensystem des Denkens Sätzen das ihnen entsprechende Gewicht. Es ist einfacher, dem Allgemeinen das Besondere zuzuordnen, was im oft sehr abstrakten Unternehmensdeutsch „Umsetzung“ heißt, als umgekehrt die richtige Regel zu finden für ein „konkretes“ Handeln. Nicht selten zielt der Vorwurf der Abstraktheit weniger auf das Fehlen von Anschaulichkeit, als dass er versucht, den hohlen Raum zwischen Denkfaulheit und Denkunfähigkeit zu kaschieren. In einem kleinen, polemischen und hintersinnigen Text schreibt Hegel, „abstrakt und beinahe auch Denken, ist das Wort, vor dem jeder mehr oder minder wie vor einem mit der Pest Behafteten davonläuft“*.

* Hegel, Wer denkt abstrakt?, Werke 2. Jenaer Schriften 1801 – 1807, 575. Die Pointe dieser Schrift ist die Antwort: „Wer denkt abstrakt? Der ungebildete Mensch, nicht der gebildete.“ (577)

Angemessen

Das viel zu hohe Honorar für eine Dienstleistung hat dieselbe Wirkung wie schlechte Bezahlung: Man fühlt sich leicht elend, nicht richtig eingeschätzt hier, nicht wertgeschätzt da, in beiden Fällen nicht ernstgenommen. Im Markt der Freiberufler und Selbstständigen entzünden sich am Geld immer Persönlichkeitsfragen.

Die Welt ertragen

Es gibt zwei gut erprobte Weisen, die Welt besser zu ertragen: Schreiben und Lachen. Beide suchen die Entlastung durchs Wort, in der Form eines Textes einsam, als Witz in der Erheiterung vieler.

Abschiedsworte

Meist sind die Worte, die gesprochen werden, wenn Wege sich trennen, und die als eine Würdigung des Gemeinsamen nachgerufen nichts von dem enthalten, was den Abschied für geboten zu halten schien, fahl und hohl. Sie liefern keine Rechtfertigung oder Erklärung, sondern unterstreichen die Dankbarkeit für Geleistetes so, dass alle sich fragen: Ist das jetzt nötig? Es ist der kleine Tod, der wie der große ein Rätsel bleibt. Nichts schmerzt mehr als jene Scheidungen, die so endgültig sind, wie für sie die Gründe plausibel nicht angegeben werden.

Populärer Populismus

Dem, der zwar nach Popularität strebt, aber den Populismus verachtet, wird die Sehnsucht nach Volksnähe zum Problem, wenn ausgerechnet der Populismus populär erscheint. Das ist immer dann der Fall, wenn Politiker meinen, sie könnten Demokratie haben ohne jenes Gran an Demagogie, das für eine treue Wählerschaft sorgt.

Sie haben Post

Der mausgraue Umschlag, nachhaltig korrekt als schlichtes Zeichen der umweltfreundlichen Gesinnung deutscher Behörden, kündigt auch an, dass in aller Regel nichts Gutes zu erwarten ist von seinem Inhalt: Steuer- oder Mahnbescheide, die Gebührenrechnung für das jüngste Parkvergehen in der überfüllten City, ein Bittsteller, der um Spenden wirbt. Echte Briefe, wenn Sie denn überhaupt noch gelegentlich im Postkasten liegen, eine Einladung zur Jubelfeier oder, noch seltener, die handgeschriebene Lebenserzählung, sind eingekleidet ins Blütenweiß edlen Papiers. Der Absender schert sich nicht um den Anschein ökologischer Sensibilität; umso leichter fällt dem Adressaten, das Schreiben herauszufischen aus dem täglichen Stapel. Er weiß, dass anders als beim Amtsschreiben, wo die Verlogenheit außen den bis aufs Komma richtigen Inhalt umhüllt, der handgeschöpfte Büttenumschlag, so ehrlich unkorrekt er ist, einen in seiner Übertriebenheit schmeichelhaften Gehalt kaschiert. Nur allzu selten ist die girlandenhafte Einladung so innig wie es die abbindende Schlaufe eines „sehr herzlichst“ vorgetragenen Grußes zur Kenntnis geben will.

Wem Gesang gegeben

„Zugestiegen?“ Der Klang der Stimme dringt von hinten ins Abteil des lesenden Fahrgasts wie eine ferne Melodie. „Zuuu-“ (hier hebt sie an) „-ge“ (ein kurzes Intermezzo) „-stiiiegn“ (erst gedehnt, dann Abbruch). „Die Fahrkarten bitte.“ Der Zugbegleiter ist auf dem Kontrollgang und verschafft sich Aufmerksamkeit, indem er seine Aufforderung mit einem silbenbetonten Singsang unterlegt. Wie oft hat er das schon gesagt; er kann sich selber nicht mehr hören. Können es die Reiselustigen? Einer jedenfalls merkt auf: „So fröhlich heute.“ Man kennt sich flüchtig. Er ist Vielfahrer und zieht routiniert die Dauerkarte aus der Tasche. „Ja, wir streiken bald wieder.“ Dem Passagier, der auf die Bahn angewiesen ist wie auf das tägliche Brot, gefrieren die Gesichtszüge. „Und das macht Sie heiter? Denken Sie eigentlich auch an uns?“ „Seit mehr als dreißig Jahren. So lang bin ich schon auf der Strecke. Aber wenn wir uns nicht kümmern, geschieht nichts. Was glauben Sie, das wir alles aushalten müssen. Ich könnte Ihnen ein Lied davon singen.“ Der Kunde hat seinen Plauderton verloren. Schon wieder in sein Buch vergraben, grummelt er nur: „Vielleicht lernen Sie erst einmal, den Ton zu treffen.“

Vergeltung

Nirgendwo wird der Hang des Menschen, sich zu steigern, so offenkundig wie in Rachekreisläufen. Diese Form der Vergeltung spiegelt nicht nur die Tat und den Schaden, der durch sie angerichtet wurde. Intensiver wirkt als Bemessungsgrundlage für den Gegenschlag der Schmerz, der nicht nur als bohrende Begleiterscheinung gewertet wird, sondern als der eigentliche Initiator eines Verlangens, das eine zureichend starke Bestrafung fordert. Er bringt die Bilanz einer Abrechnung stets in Schieflage.

Alles der Reihe nach

Alltag im „Land der Ideen“*:
„Ich habe eine Idee.“
„Wenn Sie sich bitte hinten anstellen wollen. Wir rufen Sie auf, sobald Sie an der Reihe sind.“
„Die Sache kann aber nicht warten.“
„Das sagen sie alle.“
„Glauben Sie mir, es eilt wirklich.“
„Tut mir leid, wir haben hier unsere Regeln, an die sich jeder zu halten hat.“
„Können Sie nicht eine Ausnahme machen?“
„Hören Sie mal zu; wenn ich jedem, der hier so krakeelt wie Sie, Sonderrechte einräumen würde, käme ich zu gar nichts.“
„Das ist ja genau das Problem: Wir kommen alle zu nichts, weil Leute wie Sie das Sagen haben.“
„Der Nächste, bitte.“

* Die Initiative „Deutschland – Land der Ideen“ wurde 2006 anlässlich der Fußball-Weltmeisterschaft von der Bundesregierung und der deutschen Wirtschaft, vertreten durch den Bundesverband der Deutschen Industrie, gegründet.

Meine Meinung

Dass die einst emphatischen Begriffe des Denkens wie Wahrheit oder Freiheit nur noch sprachliche Verlegenheitsfiguren sind, die an eine scheinbar selige Zeit erinnern, in der es noch einfach gewesen sein soll, sich auf eine gültige Sicht zu einigen und Verantwortung zuzuordnen, kündet, so harmlos die Dekonstruktion solch starker Wörter und Vorstellungen daherkommt, von einer Katastrophe, deren Ausmaß sich durchaus vergleichen lässt mit den großen Krisen dieser Welt. Wo fade Ersatztermini wie Meinung, nicht zuletzt: Authentizität, oder Selbstständigkeit, wenn nicht gar: Selbstverwirklichung, das Fragmentierte, Vorläufige, Persönliche, Einseitige dürftig betonen, weil die Kraft zum allgemein verbindlichen Anspruch nicht mehr reicht, da ist mehr verloren als nur Objektivität. Mit diesem Ausfall geht einher der Zuwachs an Einsamkeit, die Steigerung von Misstrauen in Realitäten aller Art, die Ausdehnung von Desorientierung, Entscheidungsschwäche oder extremer Formen der Ichstörung. Mit dem Glauben an Wahrheit verlieren wir auch die Welt, die nur so sie selbst ist, als sie eine gemeinsame sein will. Die Pfingstgeschichte von der Verständigung zwischen Menschen höchst unterschiedlicher Herkunft und Sprache formuliert die Bedingung aller Kommunikation: ein Geist, der frei macht, da er von Wahrheit groß zu denken erlaubt.

Geisteskraft

Die Kräfte des Geistes:
1. Sehen, was sich zeigt.
2. Sagen, was man gesehen hat.
3. Hören, was gesagt wurde.
4. Tun, was man gehört hat.
5. Deuten, was getan und zu tun ist.
6. Trösten, wo sich nichts deuten lässt.
7. Zeigen, wie der Trost wirkt.

Gerechtigkeit siegt

So mancher hat im Augenblick des Sieges prompt vergessen, dass er für Gerechtigkeit gekämpft hat.

Auserzählt

In so mancher Müdigkeit verbirgt sich eine Sehnsucht, die zu lang nicht erfüllt worden ist. „Kriegsmüde“, den Ausdruck hat schon Karl Kraus als „das dümmste von allen Worten, die die Zeit hat“*, bezeichnet. Als sei einer je frisch und fröhlich in die Schlacht gezogen, der einen hellen Geist hat. Es ist der Überdruss am brutalen Konflikt, der sich als Friedenswunsch negativ artikuliert. „Politikverdrossen“, so formuliert sich nicht die Abkehr allein vom Parteibetrieb, sondern die Hoffnung auf eine Wiederkehr des Politischen, der Teilhabe an der sinnreichen Gestaltung gesellschaftlichen Lebens. „Beziehungsunfähig“, in diesem Urteil versteckt sich neben dem ärgerlichen Unglück das Bedürfnis nach einer talentierten Liebe und Freundschaft. Jede Müdigkeit ist ein Signal, dass sich etwas dringend ändern muss.

* Die Fackel, Mai 1918,153

Das Virus der Unwahrheit

Auch eine Pandemie: Menschen belügen Menschen. Und fangen an, ihrer eigenen Unwahrheit zu glauben, wenn diese von anderen als Tatsache wiedergegeben wird.

Erkläre dich

Auf der Suche nach den Beweggründen für eine bestimmte Handlung ist das Angebot an möglichen Motiven reichhaltig, auch für den, der sich sein Tun selbst erschließt. Nicht selten fällt die Wahl auf das, was plausibel erscheint, stimmig mit dem Kontext, der Kommunikation, dem Konzentrat, dessen Kunstname „Seele“ heißt. Umso mehr verwundert, wenn die ausdrückliche Ablehnung einer Deutung, in manchen Richtungen der Psychologie als Widerstand zum Theorieinhalt verklärt, ein Indiz sein soll, die richtige Spur gefunden zu haben. Da wird man den Verdacht nicht los, es mache sich einer die Sache zu leicht, indem er auf billige Art seinen Reduktionismus schützt. Wenn eine Handlung oder Haltung nichts anderes sein soll als das, was ein schnell identifiziertes Motiv nahelegt, dann kann die Abwehr einer solchen Interpretation auch nur nichts anderes sein als deren Bestätigung. Ganz und gar wird so allerdings unterschlagen, dass Menschen, weil sie im letzten undurchschaubar sind, auch für sich selbst, nicht zur Erklärung taugen, sondern Verstehen fordern.

Das Taktmaß

Man unterschätze nicht die Bedeutung eines reichen Wortschatzes für die Variantenvielfalt von Beziehungen. Je größer das Ausdrucksvermögen, desto differenzierter lassen sich Formen des Miteinanders gestalten. So manche Taktlosigkeit erscheint weniger brüsk, wenn man sie schlicht als Selbstentmündigung durch Spracharmut deutet.

Delikater Ekel

Der Hausgast, dessen Espressokonsum so intensiv ist wie die Bohnenröstung, die er nutzt, erzählt mit verklärtem Blick vom besten und teuersten Kaffee, den er je getrunken hat: eine Tasse Kopi Luwak, für deren Genuss schon einmal achtzig Dollar zu begleichen seien. Die Kaffeekirschen, und das ist der abstoßende Aspekt dieses Edelgetränks, müssen zunächst durch den Darm von Schleichkatzen wandern, deren Verdauungsenzyme die Proteine und den Säuregehalt der Bohnen verwandeln, so dass sie zum begehrten Artikel für Connaisseure werden. Da sind schon in der Vorstellung eines kulinarischen Erlebnisses die Grenzen des guten Geschmacks arg strapaziert, auch wenn es so selten gar nicht ist, dass zwischen dem raren Feinsinn fürs Wohlschmeckende und dem baren Abscheu die Schwelle niedrig ist. Wo sardischer Madenpecorino oder Stierhoden als Delikatessen durchgehen, ist die Erinnerung noch präsent, dass der Luxus einst einherging mit dem Ekel, der das eigene Leben vor dem Verderben durchs Überflüssige schützt.

Probleme verstehen

Ein Problem verstehen bedeutet nicht nur, es treffend analysieren zu können. Man muss auch seine Ursache kennen.

Geborgtes Leben

Einen Roman zu schreiben heißt, sich aus dem gelebten und dem nicht gelebten Leben an „Erlebnissen“ zu borgen, was zusammengefügt eine eigene Existenz darstellt, die so persönlich, anschaulich und kraftvoll ist, dass die Unterscheidung zwischen Verrat und Erfindung, Phantasie und Bericht nicht lohnt. Am nächsten ist der Autor seinem Stück in den Augenblicken, da ihm sein Eigenes durchs Erzählen ganz und gar fremd wird.

Die Krise der Demokratie

Die Krise der Demokratie ist die Demokratisierung der Krise. Es gibt Entscheidungsfälle, in denen der freiwillige Zwang zu Abstimmung und Zustimmung am Ende zu tiefer Verstimmung führt. In ihnen stellen Schnelligkeit und Entschlusskraft einen absoluten Wert dar, für sie ist die langwierige Übersetzung eines Problems in ein Verfahren ein Fehler mit oft fatalen Folgen. Es gehört zur politischen Klugheit, solche Situationen demokratiefest zu identifizieren und ein handlungsfähiges, weil legitimiertes Institut der urteilskräftigen Wahl zu besitzen.

Aufgefahren

Der Feiertag des Fortgangs, Christi Himmelfahrt, markiert das Ende einer Geschichte als Verheißung, als Verwandlung realer Gegenwart in eine geistige Präsenz und Repräsentanz (Apg. 1,8). Das ist der Zauber, der anders als die Illusion am Anfang einem Abschied innewohnt: die Nüchternheit, die keine Verbitterung kennt, sondern in der Kraft klarer Verhältnisse Leben realitätsdicht zu gestalten vermag. Wer nur den versäumten Möglichkeiten nachtrauert, entdeckt und ergreift nicht die Chancen, die in jeder Wirklichkeit aufs Neue warten.

Wie im Fluge

Nichts beeinflusst das Zeitgefühl so stark wie große Freude.

Systemanpassung

Das aus den Ingenieurswissenschaften entnommene Ideal der Passgenauigkeit wird, zum Prüfungskriterium erhoben, überall dort zum Problem, wo es zugleich auch das Interessante sichtbar machen soll. Dazwischen zu sein (lateinisch inter-esse) ist keine Eigenschaft, die sich einfügt. Anforderungskataloge, die es zu erfüllen gilt, lassen keinen Platz für Sperriges, Außergewöhnliches, Regelfreies, selbst wenn sie nach den Freiheitsgraden fragen. Wie lässt sich das Interessante finden? Es ist stets verbündet mit Kräften, die potenziell das System sprengen.

Gartengeometrie

Die scharf geschnittenen Hecken in Nachbars Garten, so präzise, als sei an die Kanten das Lineal angelegt worden, und der Kiesweg, in den nicht ein einziger Grashalm hineinwuchern darf, sie sind Zwangszeugen eines tiefsitzenden Misstrauens gegen die Launenhaftigkeit des Lebens. Natur ist hier zum Synonym geworden für Chaos, der Mensch, dessen Pflicht, sie sich „untertan“ zu machen, interpretiert ist im Dauereinsatz der Rasen-, Baum und Staudenscheren, befindet sich im zehrenden Kampf mit ihr: hier das Schicksal, dort sein strenger Planungswille, der das Unvorhersehbare nur bezwingen kann durch das unausgesetzte Anlegen des Werkzeugs. Nichts ist entspannt in diesem Wunderwerk gepflanzter Geometrie. Aber in der symmetrischen Form lauert schon die nächste Attacke der Natur, die das Ordnungsbestreben immer wieder listig unterläuft. Jedes Wachstum kündet letztlich vom Triumph des Unkontrollierbaren.