Großes Glück: wenn über Generationen hinweg gemeinsames Lachen verbindet. Solange der Jüngste die Pointen des Alten lustig findet, ist noch nicht alles verloren. Und umgekehrt der Betagte im Heranwachsenden den gleichen Humor entdeckt.
Impulse der Veränderung
Über Wut und Zorn, Hass und Ressentiment bin ich im Gespräch mit Denise M’Baye und Sebastian Friedrich in der Sendung „Tee mit Warum“, produziert von NDR Kultur:
„Wut ist der Zorn der Hilflosen und diese düstere Hilflosigkeit drückt sich darin aus, dass ich nicht spreche, sondern schreie. Schreien heißt, dass die Individualität meiner Stimme verloren geht. All das, was eine Stimme auszeichnet. Dass sie sich abzeichnet, dass sie artikuliert, dass die Chance besteht, dass mein Gegenüber mich versteht. Das hat die Wut nicht.“
Leserschaft
Leser eines Buchs bilden eine Gemeinschaft, in der die Einzelnen einander nicht kennen.
Zeig dich mal
Der verdient, authentisch genannt zu werden, der genau weiß, was er wann von sich zeigen darf, und wo er es besser unterlässt.
Schweigen wie ein Freund
Die wichtigste Eigenschaft in der Freundschaft: Diskretion.
Mit Vernünftigkeit Staat machen
Aus einer Sonntagnachmittagslektüre
„Ziel staatlichen Handelns sollte immer die Herstellung bestimmter Zustände sein, zu denen natürlich auch die Aufrechterhaltung der eigenen Handlungsfähigkeit gehört; aber es handelt sich um eine Perversion des Staates, die man sowohl in Despotien als auch in Demokratien antreffen kann, wenn seine Tätigkeit zum Selbstzweck wird und nicht mehr auf angebbare Aufgaben ausgerichtet ist. Um bestimmte Zustände zu erreichen, sind Einzelakte unabdingbar. … In der Tat sind aus Gründen sowohl der Praktikabilität als auch der Gerechtigkeit Einzelakte nicht ausreichend: Ein Vernunftwesen, das Allgemeinbegriffe bilden kann, drängt nach generellen Normen. Vielleicht könnte sich Macht alleine aus Einzelakten aufbauen; eine rechtlich verfaßte Macht kann das nicht: Generelle Normen, die eine größere Zahl von Fällen, im Idealfall sogar eine unbestimmte Anzahl umfassen, sind unverzichtbar. Aus ihnen allein jedoch könnte kein einziges Gebilde bestehen: Zur empirischen Wirklichkeit gehört Individualität, und sie ist mit generellen Normen alleine nicht zu bändigen. Die Unterscheidung zwischen genereller Norm und Einzelakt ist relativ, da es zwischen einer Norm wie ,Die Würde des Menschen ist unantastbar‘ und dem Befehl, strammzustehen, zahlreiche Zwischenstufen gibt (etwa allgemeine Weisungen); dennoch ist sie wesentlich, um die Differenz zwischen Legislative und Exekutive zu verstehen.“*
* Vittorio Hösle, Moral und Politik. Grundlagen einer politischen Ehtik für das 21. Jahrhundert, 638
So grässlich hässlich
Menschen im hohen Alter, genauso wie in früher Kindheit, können nicht hässlich sein.
Trotzdem
Schreiben, wenn nichts ins Wort drängt, ist schwierig, aber nicht sinnlos. Man kann es auch der reinen Form eines Satzes überlassen, sich den Inhalt zu suchen. Da kann Überraschendes entstehen, das sich herausgebildet hat als Gedanke, der sich allein der Schönheit eines durchstrukturierten Gebildes verdankt. Zuerst kommt der Begriff, dann dessen Bedeutung. Der Kopf ist leer; trotzdem findet sich in der zufälligen Kombination irgendwelcher Ausdrücke ein Anspruch. So „arbeitet“ künstliche Intelligenz.
Statistisch gesehen
Mit dem Siegeszug der Statistik, nicht nur in den empirischen Wissenschaften, legt sich das Denken auf die faule Haut. Zahlen betrügen in die Bewertung. Was wahr, richtig, schön, wesentlich, gut genannt zu werden verdiente, wird gemessen. Es gab einmal eine Zeit, da galt das Maß als Orientierungshilfe, ja Kriterium für Qualität. In ihr bedeutete es eine Größe, die sich nicht beziffern ließ. Und deswegen nur mit Hilfe der Urteilskraft ermittelt werden konnte.
Erinnerungssüchtig
Nicht entschieden ist, ob ein Netz, von dem es heißt, es vergäße nicht, diesen Protokollierungszwang als Verheißung oder Drohung wirken lässt. Klar allerdings ist digitaler Unfug, in diesem Zusammenhang von Gedächtnis zu sprechen. Das Internet hat keine Erinnerung. Zu dieser gehört vielmehr, dass in dem Maße, wie sie etwas behält, anderes verloren gegangen ist. Denken bedeutet immer beides. Der Unterschied zwischen dem, was man entsinnt (besser: worauf man sich besinnt), und dem, was einem entfällt, markiert die erste Wertung des Bewusstseins, ohne dass diese schon identisch sein müsste zwischen „wichtig“ und „vernachlässigbar“.
Prinzipieller Pragmatismus
Pragmatisch heißen jene Menschen, denen man netterweise nicht nachsagen will, dass sie keine Prinzipien haben oder diese bei nächstbester Gelegenheit über Bord werfen.
Vergebens
Traue keiner Vergebung, die nicht den Widerwillen des Zorns als Zähneknirschensrest in sich noch enthält.
Gemischtes Doppel
In der Tonhalle das Doppelkonzert gehört, die letzte Komposition von Brahms für Orchester mit Starbesetzung für Violine und Violoncello. Das gelingt nur, wenn zwei Solistinnen, die auch allein Säle zum begeisterten Toben bringen, sich einem größeren Ganzen verpflichten. So ist ein starkes Ego erträglich, als ein Ich, das sein eigenes Genie in den Dienst stellt eines Werks, an dem es seine und dessen Saiten bestens zum Klingen bringt. Du wirst groß, indem du andere und anderes groß machst. Das ist die Kunst.
Finanzkapitalismus
Aus einer Samstagnachmittagslektüre
„Souverän ist, wer eigene Risiken in Gefahren für andere zu verwandeln vermag und sich als Gläubiger letzter Instanz platziert.“*
* Joseph Vogl, Der Souveränitätseffekt, 251
Geschirrmuffel
Man kann sich die berühmte Unterscheidung des Chicagoer Soziologen David Riesman* zwischen dem innengeleiteten Menschen, der sich an selbstgewählten Maßstäben orientiert, und dem außengeleiteten Charakter, der den Einflüsterungen von Mode und Massenmedien blind folgt, deutlich machen am Umgang mit dem Abendgeschirr: Der eine lässt Teller und Gläser einfach stehen und räumt sie am nächsten Morgen in die Spülmaschine, weil seine Müdigkeit zum dominanten Handlungsantrieb geworden ist; der andere hingegen erträgt es nicht, die Unordnung tags drauf noch zu sehen, und muss die Sachen, trotz Erschöpfung, noch in den Apparat sortieren. Vielleicht ist dies die einzige Situation, in der das Chaos den höheren Typus repräsentiert.
* Die einsame Masse, 1950
Mord an der Originalität
Wie man Originalität verhindert: Die Lust auf Überraschung verschwindet zuverlässig, sobald sie verwandelt worden ist in ein Verfahren, das sich – wie in Innovationswettbewerben oder bei Drittmittelanträgen – detailliert zu legitimieren hat. Überhaupt ist erzwungene Prozesstreue die sicherste Methode, den Eigensinn und die Eigenständigkeit nur noch im Maß von Spurenelementen zu dulden.
Übernimm dich nicht
Übernehmen, das setzt voraus, dass jemand anderes etwas übergeben hat. Nur bei der Verantwortung wird diese Logik außer Kraft gesetzt. Wer Verantwortung für etwas übernimmt, zieht sich zurück, statt sich hineinziehen zu lassen. Dieser Schritt bedeutet ein Ende, obwohl sich die Formel liest, als gehe einer ein Engagement gerade erst ein. Hier wird übernommen, woran man sich zuvor übernommen hat. Schwierige Sache; schwere Sprache.
Short message
Für den Aphorismus gilt: Je kürzer der Satz, desto endgültiger sein Sinn.
Maßgebend
„Der Name des Geistes ist vom Messen hergenommen (nomen mentis a mensurando).“ So leitet Thomas von Aquin die zehnte der Fragen in seiner Abhandlung über Wahrheit* ein. Im Unterschied zum Verstand bestimmt er den Geist als das Maßgebende; geistlos heißt daher, wem nicht bekannt ist, dass alles eine innere Grenze hat, die sich oft allen erst zeigt, wenn sie überschritten worden ist. Maßlosigkeit ist eine Form der Geistlosigkeit.
* Über die Wahrheit (übersetzt von Edith Stein), X.1, 308
Krisenkorsett
Ein sicheres Indiz von Krisen: Der Umfang der Themen wird kleiner; der Inhalt des Themas reicher.
Abschüssige Gespräche
Gespräche, die ein Gefälle aufbauen, entwickeln sich schnell unter der Hand zu Therapiesitzungen. Da hört einer zu, und der andere gibt Ratschläge. Oft ungefragt. Auch die Kommunikation ist ein, nur dürftig verstecktes Machtspiel.
Gleichheitszeichen
Nicht nur in der Mathematik, auch im Leben ist das Gleichheitszeichen ein Indiz dafür, dass die Bewegung der Reflexion, des Rechnens, des Miteinanders und Gegeneinanders aufhört. Wo das Ergebnis steht, wo die Differenzen bereinigt und der schlichtende Ausgleich hergestellt sind, da endet die Anstrengung. Nichts ist so langweilig wie ein Denken in Resultaten, nichts so ermüdend wie ein Zustand vollkommener Gerechtigkeit.
Möglicherweise
Eine Philosophie, die nicht nur den Sinn fürs Wirkliche hat, sondern auch Möglichkeitssinn besitzt, heißt Theologie.
Recht einfach
Es ist das Problem des Rechts, dass es alle künftigen Handlungen an allen vergangenen Handlungen misst und seine Grundsätze für jene aus den Erfahrungen mit diesen formuliert. Weil dieses schon passiert ist, soll jenes nicht mehr geschehen dürfen: So erlässt es immer mehr Regeln, die Ereignisse und Eventualitäten abzubilden versuchen. Das Recht, so sehr es dem Ideal der Eingängigkeit nacheifert, kann gar nicht einfach sein.