Tiefer Fall

Dass Hochmut vor dem Fall komme, ist eher ein Wunsch der Gedemütigten als die Beschreibung des Arroganzschicksals. Nicht selten befördert Hochmut im Gegenteil den gesellschaftlichen Aufstieg.

Erinnerung und Erwartung

Kein Monat hat so viele Gedenktage wie der November: Allerheiligen, Allerseelen, Totensonntag, der Volkstrauertag, das sind die Anlässe, das Los, das alle ereilt, den Tod, genauer in den Blick zu nehmen. Die einen halten sich fest an der Erinnerung – so lang ein Mensch im Herzen bleibt, ist er nicht gestorben –, die anderen beschwören die Erwartung, die Verheißung einer Auferstehung. Zum Trost allerdings gehört, dass er nicht selber zu leisten ist, sondern nur als Geschenk seine Kraft entfalten kann.

Gutsprech

Die Bahn bei einem unschönen Fehler ertappt und freundlich Beschwerde eingereicht, erst schriftlich, dann – nach einer elendlangen Duldsamkeitsphase in der Warteschleife – mündlich. Nichts half. Nun kommt doch die Antwort: kein Eingeständnis, keine Entschuldigung, keine Erklärung. Sondern im Jubelton: „Wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu dürfen …“. Boah Bahn. Die Marketingregel lautet: Gute Laune, aufgesetzt, macht miese Laune.

Fortschritt als Rückschritt

Was die künstliche Intelligenz bewirkt: vor allem die Degeneration der natürlichen Intelligenz. Der Fortschritt, den die Denkmaschinen versprechen, ist in Wahrheit ein Rückschritt.

 

Problemlösungsstrategie

In einer Welt, die den Unterschied zwischen Fakten und Fiktion nicht mehr aufrechterhält, lassen sich sämtliche Probleme lösen, indem man sie ignoriert.

Unbegrenzter Schaden

Was politisch Schadenbegrenzung heißt, ist das Problem, für dessen Lösung sie sich ausgibt: Der Verdruss über die freche Verlogenheit der Kommunikation, die weder ernsthaft den sachlichen Widerspruch parteiinterner Rede heilt, noch darauf setzen kann, dem Wahlvolk Eintracht vorgaukeln zu können, diese mutwillig erzwungene Realitätsverweigerung, raubt selbst dem Gutwilligen unter den Bürgern die Willigkeit wie seinen Optimismus. Wem also ist geholfen, wenn der Parteivorsitzende und Kanzler die Worte seines Außenministers harmonisiert mit der politischen Linie? Keiner glaubt mehr irgendwas: der Politiker seinen Sprüchen nicht, seinem Partner nicht, seinem Programm nicht. Und der Bürger verliert auch noch das Vertrauen in die Institutionen.

Das Individuum in der Gesellschaft

Definition von Einsamkeit: der Tod zu Lebzeiten.

Blindes Wissen

Die Blindheit der Wissenschaft: Wir sehen vor lauter Rätseln das Geheimnis nicht.

Was bleibt?

Aus einer Samstagabendlektüre

„Aus der Mitte der ersten ägyptischen Dynastie um etwa 2900 v. Chr. ist eine Papyrusrolle erhalten, die wegen ihres prekären Erhaltungszustandes bis heute noch nicht geöffnet wurde, so dass wir nicht wissen können, welche Botschaft sie enthält. Manchmal stelle ich mir so die Zukunft vor: Nachfolgende Generationen, die ratlos vor den heutigen Datenspeichern stehen, seltsamen Aluminium-Schachteln, deren Inhalte durch die rasanten Generationswechsel der Plattformen und Programmiersprachen, der Dateiformate und Abspielgeräte zu nichts als sinnlosen Codes geworden sind, die jedoch als Objekt deutlich weniger Aura verströmen als die so beredten wie stummen Knoten einer inkaischen Quipuschnur oder jene rätselhaften, altägyptischen Obelisken, von denen niemand mehr weiß, ob sie nun Denkmäler des Triumphes oder der Trauer darstellen.“*

* Judith Schalansky, Verzeichnis einiger Verluste, 24

Geist und Körper der Technik

Es kommt kaum eine neue Technik auf den Markt, mit der nicht eine versteckte Gewalt gegen den Geist und eine Ignoranz des Körpers verbunden ist. Nur dass, sobald sie in Gebrauch kommt, sich die Geräte leicht und selbstverständlich mit Geist und Körper verbinden, besser: verbünden.

Wenn ich mich nicht irre

Im Denken gewinne ich nichts, wenn ich nicht riskiere und aushalte, widerlegt zu werden.

Große Wörter

Man kann die großen Wörter der Philosophie wie Wahrheit, Freiheit oder Verantwortung gar nicht groß genug denken. Was erst einmal nichts weiter besagen will, als dass für sie gilt, nicht in dem aufzugehen, was das Größte genannt zu werden verdiente, das je über sie zu denken möglich ist. Das Höchste, das an Wahrheit zu erleben ist, ist Freiheit. Das Tiefste, das zur Freiheit gesagt werden kann, heißt: dass sie sich als Verantwortung darstellt. Das Lebendigste, als das Verantwortung zur Erscheinung kommt, ist jene Bestätigung, dass ein Handeln nicht nur als geboten wahrgenommen wird, sondern als wahr, weil es Dasein verändert.

Was bedeutet: über die eigenen Verhältnisse leben?

So unbekannt der Autor des allbekannten Satzes ist, Politik sei die Kunst des Möglichen, so irreführend ist diese Bestimmung. Nichts ist schwieriger in der Politik, als ein Wahlvolk mit den Grenzen des Wirklichen vertraut zu machen, weil andernfalls künftig nichts mehr möglich sein wird. Wer über die eigenen Verhältnisse dauerhaft gelebt hat, spürt das Realitätsprinzip umso schmerzhafter. Das wäre große politische Kunst, ohne Furcht eine Gesellschaft über sich selbst zu desillusionieren, die darauf dankbar mit der Stimmabgabe reagiert.

Im Dienst

Politisch handeln heißt nicht, Dienstleistung als Macht zu betrachten, sondern in der Dienstleistung die höchste Form der Macht zu sehen.

Schön langsam

Es ist der zweite Blick und alle folgenden, über die Schönheit sich erschließt. Sie ist ein spätes Phänomen, ein langsames Nachwirken, das durchaus ausgelöst sein kann von der unmittelbaren Faszination für ein Gesicht oder einen Gegenstand, für eine Gegend und ein Gegenüber. Aber nicht muss. Hingerissen zu sein – ja, wovon? – ist eher ein Indiz der Blendung. Schönheit indes will gesehen werden und einnehmen, nicht überwältigen.

Bleib fröhlich

Im Unterschied zur Freude ist die Fröhlichkeit ein Werk der Unmittelbarkeit, ohne Sorge um Vergangenheit oder Zukunft, voll und ganz damit beschäftigt, die Gegenwart wunderbar und erfüllt zu finden.

Einheitlich, aber nicht eins

Es ist das Paradox eines gemeinsamen Gewissens, das Europa daran hindert, Macht auszuüben. Der schnellste Weg zur politischen Einheit ist der Verzicht darauf, sie moralisch begründen zu wollen.

Das Glück auf der Strecke

Es sagt viel über den Zustand einer Dienstleistung, wenn das, was als selbstverständlich erwartet werden darf, zum Anlass von Enthusiasmus wird: Die Stimme des Zugchefs überschlägt sich vor ungehemmter Begeisterung, als die Wagen den Bahnsteig zwei Minuten vor der Zeit erreichen. „Wir sind mal wieder unpünktlich“, so beginnt er die Ansage und lacht über sie, weil er das Sprachspiel mit dem sonst üblichen Leid der Fahrgäste amüsant findet. „Zu früh gekommen. Aber das kennen ja viele von Ihnen aus anderen Lebenslagen. Hahaha.“ Alle hoffen, dass die Türen sich unverzüglich öffnen, um der groben Peinlichkeit entfliehen zu können. Das Glück des einen ist auf der Strecke geblieben.

Wenn Ich und Ich debattieren

Es stimmt nicht, dass der Größenwahn keinen Widerspruch duldet. Er nimmt ihn nur von Fremden nicht an, weil er meint, auch das genaue Gegenteil könne er besser vertreten als jeder andere. Es gibt Politiker, denen alles daran liegt, dass sie sich selber ins Wort fallen.

Gefährliche Mixtur

Gewöhnlich lässt nicht die Macht jene, die in ihrem Besitz sind, charakterlos werden. Aber der Charakterlose sucht die Macht als hohlen Ersatz für das, was ihm an Persönlichkeit fehlt.

Das Beste hoffen

Zuversicht ist jene Form des Trotzes, die sich nicht auf das fixiert, was ist, sondern widerstandsbereit ergreift, was erst kommen soll – ein Selbstbewusstsein, das seine Leistungsfähigkeit aus der Zukunft ableitet.

Angestoßen

Der Unterschied zwischen anstößigen Sätzen und anstoßenden Gedanken entspricht der Differenz von Aktiv und Passiv: An jenen stoße ich mich; von diesen werde ich angestoßen. Beides kann schmerzhaft sein.

Schöner Gedanke

Die Liebe zum Leben ist, was einen Gedanken schön macht.

Theologie der KI

Der Name für das, was man früher als das „Wesen“ der künstlichen Intelligenz bezeichnet hätte: nämlich dass sie Leben und Lebendigkeit simuliert, also wohl in der paradoxen Formel zu fassen ist, sie sei totes Leben, der Name für diese Form der Existenz, lautet metaphysisch – Hölle. Sie ist jene Weise des Lebens, in der es sich selbst verloren hat, lebt, ohne lebendig zu sein, im Gegensatz zum Himmel, in dem alles Tote wieder lebendig geworden ist. So gesehen sollte man wissen, was herauskommt, wenn es Menschen gelingt, das Schöpferische kalt zu kopieren: etwas, das so aussieht wie Leben, sich aber von ihm durch seine Geistlosigkeit elementar unterscheidet.