Lebendiger Gott

Zum Karfreitag

„Lebendiger Gott …“, so lautet eine Liturgieformel, die trotzig und zuversichtlich, vertrauensvoll und entschieden die Gebete einleitet, die in den Feiern zum Karfreitag des Gottestodes gedenken. Man stelle sich vor, so hätten jene gesprochen, die vor zweitausend Jahren zu Zeugen dieses Ereignisses geworden waren, die Gefolgsleute, die Jünger, die ihre Existenz auf diesen Messias am Kreuz gesetzt hatten, nicht zuletzt die Frauen, von denen das Testament erzählt, am Rande, gewiss, aber nicht als Randfiguren. Undenkbar. Da ist längst viel österliche Theologie in den Anrufungen des Gottesdienstes zu finden. Die Gefolgsleute heute in den Kirchenbänken, die der Radikalität der ersten Glaubensbekenner meist nur wenig entsprechen können, wenn sie ihre bürgerliche Existenz am arbeitsfreien Tag für eine gute Stunde in Andacht verbringen, werden mit der Härte des Geschehens kaum konfrontiert: Da ist kein Gott gestorben, so dass sie verzweifeln müssten, wie es der Chor in Bachs „Matthäuspassion“ noch singt: „Wir setzen uns mit Tränen nieder“. Der Kreuzestod war für viele, nicht nur für den einen, das Ende. Sie hatten nichts mehr, woran sie sich fest halten konnten; das Leben, das sie auf ihn vorbehaltlos ausgerichtet hatten, war für sie total durcheinandergeraten. Nur aneinander hielten sie noch fest, so dass die Trostlosigkeit nicht absolut werden konnte. Das war ihr Glück. Ohne die Gemeinschaft, die in der schwersten Zeit zusammenstand, wäre die Osterbotschaft wohl so nicht belastbar weiterzugeben gewesen. Zwar erschien der auferstandene Jesus, wie es die Zeugnisse berichten, einzelnen zunächst, den Frauen, die vom Rand ins Zentrum der Geschichte gerückt sind. Aber die Gemeinschaft derer, die zunächst verzweifelt, dann zweifelnd, die Erlebnisse der vom Gottessohn Berührten (so Thomas, der Skeptiker) vernahm, entwickelte sie zu einer Glaubenserfahrung bis in die Gegenwart, die der attributiven Zuordnung „Lebendiger Gott“ nicht nur den Charakter nimmt, angesichts des Kreuzestodes eine contradictio in adiecto zu sein, ein Selbstwiderspruch, sondern ihr eine Gewissheit gibt, die alle Untiefen des Lebens übersteht. Ohne die Formel „Lebendiger Gott“ gäbe es an Karfreitag nichts zu feiern.

Liebesverrat

Zum Gründonnerstag

Die Größe einer Liebe zeigt sich am klarsten in dem Moment, in dem sie verraten wird.

Von einem neuerdings erhobenen ruppigen Ton in der Politik

Man darf darauf wetten, dass der in der Politik neuerdings erhobene ruppige Ton, wird ihm nur lautstark widersprochen, in Weinerlichkeit verfällt. Sie sind beides Ausdrucksformen eines Ichs, das sich selber maßlos überschätzt. Die treffsicherste Kränkung eines Narzissten ist gelangweilte Ignoranz.

Tarnkappentechnik

Je umständlicher, komplizierter (nicht komplexer) und detailreicher eine Sache ist, desto mehr entschwindet sie der Aufmerksamkeit. Das ist die Tarnkappentechnik in einer Welt, die sich nicht mehr die Mühe macht, in ihren eigenen Dingen gründlich, ausdauernd und ausgiebig zu sein. Wer etwas zu verbergen hat, verschweigt es am besten, indem er ellenlang redet.

Was sich lohnt

Es ist eine einzige Frage, deren Beantwortung zuverlässig Auskunft gibt, ob sich mit einer Sache zu beschäftigen lohnt. Frage dich: Ist dieses oder jenes fähig, deine Liebe zu erwecken? Die Welt sortiert sich, so betrachtet, präzise. Nur das Liebenswerte macht einen Unterschied. Mehr muss man von sich selbst und anderen nicht wissen.

Lebenshilfe

Zum Palmsonntag

Hosianna, der Ruf, ob als Flehen oder Jubel, der beim jüdischen Pessachfest liturgisch die Lobpsalmen begleitet, und später die Geschichte vom Einzug Jesu in Jerusalem kennzeichnet, verdichtet die Vorstellung von Gott auf den Akt der Hilfe. Als Bitte um Hilfe benennt er ein dem Menschen zentrales Defizit, ohne zu sagen, worin es besteht. „Hilf doch“, so die Übersetzung des Anrufs, ist zunächst abstrakt und bekommt nur seinen Sinn, wenn sowohl dem Absender wie dem Adressaten klar ist, worin ein solche Hilfe bestehen könnte. Wie lautet der Name der Not, die zu lindern, ja aufzuheben, den Anlass gibt, so zu beten? Das wird nicht gesagt. Weil es sich selbst erklärt? Weil keiner genau weiß, welcher Beistand genau gemeint sein könnte? Was bedeutet die Assistenzanrufung also? Ein Hinweis mag jene Lästerrede geben, die der Evangelist Matthäus dem Zufallspublikum der Kreuzigung in den Mund gelegt hat: „Der du den Tempel Gottes zerbrichst und bauest ihn in drei Tagen, hilf dir selber!“ (Matth. 27, 40) Wer so Großes zu tun beansprucht, der muss mächtig genug sein, wenn es ums Ganze geht, und ihm an den Kragen. Der Tod aber ist das Ganze des Lebens; besser: dem Leben geht es im Ganzen um den Tod. Das einem Sterbenden zuzurufen, ist der Inbegriff des Zynischen. Von der Begeisterung der Zuschauer am Wegrand, die den Eselsritt des Erlösers bejubeln, bis zur Bitterkeit der Zeugen eines Todeskampfs steigert sich das Maß der erwarteten Hilfe, die anfänglich noch unbestimmt ist, hin zur letzten Bestimmtheit einer jeden Existenz: Befreiung von ihrer Endlichkeit. Und damit von allen Beschränkungen, die sie, leidvoll, aber auch freudenreich, ausmachen. Mag das Hosiannageschrei noch als unbedacht ausgelegt werden, so ist die Aufforderung zur Selbsthilfe schon konsequenter: Ein Gott, der als Helfer sich ansprechen lässt, muss auch im Letzten in der Lage sein, das Los aller zu sterben für sich abzuwenden. Das Missverständnis indes bestand darin, dass keiner sah, dass genau dies nicht geschehen durfte, um hierin Helfer sein zu können. Zur Hilfe gehört wesentlich, dass sie aus Erfahrungen erwachsen ist, die überwunden worden sind. Wer im Tod helfen will, muss ihn erfahren und überwunden haben. Selbsthilfe war daher die falscheste aller Empfehlungen. Es ist tröstlich – Trost ist die Hilfe der Hilflosen –, dass die Passions- und Ostergeschichten anders enden: mit der Belastbarkeit einer Hilfe, der es ums Ganze geht, indem sie es durchmacht und durchsteht. Das Testament nennt das Auferstehung.

Bruchlinien

Nichts fördert so sicher die Bereitschaft, gewalttätig zu werden, wie ein gebrochener Stolz. Das ist die hauptsächliche Gefährdung jener Menschen, die meinen, groß zu werden, indem sie andere kleinmachen.

Da kann man sich nur wundern

So manche Frage beginnt damit, dass einer sich wundert. Es gibt Antworten, die so gut sind, dass am Ende alle staunen. Alles, was dazwischen ist, heißt „denken“.

Spiel der Erwachsenen

Was sich von den Märkten – Aktien, Anleihen, Edelmetalle, Krypto – lernen lässt, die im ganz großen Stil derzeit manipuliert werden von Menschen, die eigene Interessen und Vorteile über alles andere stellen: Wer nur spielt, verspielt vor allem Vertrauen, und damit jene entscheidende Bedingung, die ermöglicht weiterzuspielen. Ohne dieses Vertrauen spielt keiner mehr mit, auch wenn ihm, meist übel, mitgespielt wird.

Politik als Spiel

In dem Maße, wie die Politik als Spiel betrieben wird, wächst der Ernst für den Bürger, weil er nicht mitspielen kann, sondern nur noch als Spielball mächtiger Interessen instrumentalisiert wird.

Das große Finale

Endspiele in der Geschichte beginnen immer damit, dass der Preis für die Zerstörung des anderen die Selbstzerstörung ist.

Nähe zum Abstand

Ein Mensch, der unfähig ist zur Selbstdistanz, besitzt auch nicht das Talent für Nähe. (Eine politische Konsequenz: Man sollte sich nur von Menschen regieren lassen, die über sich lachen können.)

Abschiedsszenen

Den Stil und Charakter eines Menschen (oder einer Institution) erkennt man am besten an der Art und Weise, wie er (sie) Liebgewonnenes aus dem eigenen Leben verabschiedet. Trennungsszenen verraten bis in die abgründigste Tiefe alles über das Format einer Person (oder Organisation). Warum das so ist? Weil in solchen Momenten sichtbar wird, ob das Nein, das auszusprechen ist, getragen wird von einem letzten Ja.

Heiliges Recht

Schlimmer als jeder Verstoß gegen das Recht ist die Ignoranz gegenüber dem Recht. Wer sich wider das Gesetz stellt, erkennt es an und riskiert, nicht selten mit Bewusstsein, eine harte Strafe. Wem die gesellschaftlichen Regeln indes gleichgültig sind, hat sich selbst aus der Gemeinschaft ausgeschlossen, die ihre legitime Identität erfährt in der Anerkennung allgemeiner Grundsätze. Wirklich Rechtsbrecher ist nicht der, der das Recht bricht, sondern wer mit dem Recht bricht.

… so ich dir

Auch das ist Ausdruck einer großen Sehnsucht nach Liebe: alles zu tun, um wenigstens von vielen gehasst und verachtet zu werden.

Den Zoll in die Schranken weisen

Protektionismus, das ist immer schon jene Abwehr gewesen, die aus Angst vor dem Tod lieber Selbstmord begeht. Sie entspricht nicht nur einer längst überholten Handelspolitik in einer Welt, in der sich Arbeitsplätze dauerhaft nicht schützen lassen, wenn anderswo besser, billiger und breiter produziert wird. Fehlende Konkurrenz von außen wird nur dafür sorgen, dass im Land die Preise steigen werden, das Angebot geringer ausfällt, die Qualität nachlässt. Wer wüsste das nicht besser als das kapitalistische Amerika. Der Protektionismus stammt vor allem aber aus einer philosophischen Logik, die seit dem späten Mittelalter obsolet geworden ist, nach der es darum gegangen war, suum esse conservare, das Eigene vor allem zu bewahren, indem man es nicht riskiert. Da ist die Moderne klarer und ehrlicher, die Identität stets in ihrem Reichtum durch Auseinandersetzung, Widerstreit und Entfremdung vom Gewohnten gesucht hat. Am Ende aber ist Protektionismus das Gefühl des Narzissten, der glaubt, sein Ich werde größer, wenn er versucht, andere klein zu machen.

Lebendiger Widerspruch

Aus einer Abendlektüre

„Ein Mensch, der sich endlos widerspricht, ist unerträglich und faselt. Ihm muß gesagt werden: A ist nicht zugleich Non-A, fürs einfach-richtige Denken gilt dieser Satz vom Widerspruch. Aber ist das Denken nicht mehr so einfach, wird es geordnet fortschreitend, so verändert sich etwas darin, zusammen mit dem Gegenstand, mit dem es fortschreitet. Dann gilt der Satz. des Widerspruchs nur als ebenso aufgehobener: A ist zugleich Non-A.“*

* Ernst Bloch, Tübinger Einleitung in die Philosophie, 260

Was geschieht hier?

Nicht nur das, was in dieser Welt vielerorts gerade geschieht, macht fassungslos. Verblüffender noch ist, was nicht geschieht: Wo ist der Protest gegen den Missbrauch von Macht, wann kommt der Aufstand, wie setzt das Recht sich wieder durch, wer wird zum Anführer der Aufrechten, warum bleibt die Mehrheit eingeschüchtert still? Es fehlt an Fragen und Taten, die den sinnlosen Behauptungen und ruchlosen Entscheidungen entschlossen widersprechen.

Das Leben feiern

Am besten feiert man das Leben, indem man es nicht aufhält durchs viele Feiern. Sondern fröhlich lebt.

Wahrheit und Widerwort

Nichts irritiert Wahrheit weniger, als dass man ihr widerspricht. Sie kann gar nicht gedacht werden ohne Gegenrede.

Es reicht

Die Geschichten, aber auch die große Geschichte, nähmen eine andere Wendung, wenn die in sie verstrickten Menschen begriffen, dass sie längst hätten gehen sollen. In nichts mangelt es ihnen so an Talent wie bei der rechten Bestimmung des Endes von Verhältnissen, von Karrieren oder Positionen, Rollen und Mustern, die sie lang genug lebendig ausgefüllt haben.

Du hast keine Wahl

Zu den tiefsten Einsichten der Freiheit gehört, dass Unabhängigkeit paradoxerweise in dem Maße wächst, wie die Zahl der Abhängigkeiten zunimmt. Dann nämlich erst entsteht die glückliche Situation, wählen zu können, ohne fürchten zu müssen, dass einer seine exklusive Rolle ausnutzte. Es ist ein Irrtum zu glauben, Eigenständigkeit sei ein Synonym von Ungebundenheit. Das gilt im Politischen wie im Privaten gleichermaßen.

Noch zu retten?

Nach einer Talkshow über die Koalitionsverhandlungen: Wenn wir nicht endlich aufhören, Unangenehmes schönzureden, anderes schlechtzumachen und mit Falschaussagen das Offenkundige zu beleidigen, wird das nichts mit der Zeitenwende. Dann wendet sich die Zeit gegen uns. Der viel bemühte und oft eingeklagte Respekt beginnt als Achtung vor der Wirklichkeit. Sie ist das vornehmste Kriterium für das, was zu sagen ist. Man nennt das nach alter Weise Wahrheit.

Unsere Welt

In seiner zeitlichen (ziemlich kurz) und räumlichen Beschränkung auf das Frankreich Ende des 17. Jahrhunderts hat sich Michel Foucault geirrt. Aber als beschriebe er unsere gegenwärtige politische Welt, in der durch schnelle Dekrete, Abschiebung und Drohung mit Gefängnis gesellschaftliche Fakten geschaffen werden, hat er vor fast fünfzig Jahren Formen absolutistischer Macht untersucht.

„Das System aus Siegelbrief und Einsperrung war nur eine ziemlich kurze Episode: kaum länger als ein Jahrhundert und auf Frankreich beschränkt. Gleichwohl hat es seine Bedeutung in der Geschichte der Mechanismen der Macht. Und zwar bringt es nicht den spontanen Einbruch der königlichen Willkür, sondern eher deren Aufteilung in komplexe Bahnen und in ein Spiel von Ansprüchen und Antworten. Mißbrauch des Absolutismus? Vielleicht. Doch nicht in dem Sinne, daß der Monarch seine eigene Macht schlicht und einfach mißbraucht, sondern in dem Sinne, daß ein jeder die Enormität der absoluten Macht für sich, zu seinen eigenen Zwecken und gegen die anderen verwenden kann; die Mechanismen der Souveränität stehen jedem zur Verfügung; jeder, der geschickt genug ist, kann ihre Effekte zu seinen Gunsten verwenden. Daraus ergeben sich einige Konsequenzen: die politische Souveränität läßt sich auf das elementarste Niveau des Gesellschaftskörpers herab; von Untertan zu Untertan – und es handelt sich manchmal um die niedrigsten; unter den Mitgliedern ein und derselben Familie, innerhalb von Nachbarschafts-, Interessen-, Berufs-, Rivalitäts-, Haß- und Liebesbeziehungen kann man außer den traditionellen Autoritäts- und Gehorsamswaffen auch das Instrumentarium einer politischen Macht zu Geltung bringen, die die Form des Absolutismus hat; jeder kann, wenn er das Spiel zu spielen weiß, für den anderen ein schrecklicher und übergesetzlicher Monarch werden: homo homini rex; eine ganze Kette der Politik überkreuzt sich mit dem Einschub des Alltäglichen.
Aber diese Macht muß man sich wenigstens für einen Augenblick aneignen, man muß sie kanalisieren, erschleichen und in die gewünschte Richtung leiten; man muß sie, um sie für sich ausnützen zu können, „verführen“; sie wird gleichzeitig als Objekt von Begehrlichkeit und das Objekt von Verführung; sie wird also ansehnlich und dies in dem Maße, in dem sie fürchterlich ist. Die Intervention einer unbegrenzten politischen Macht in die Verhältnisse des Alltags wird also nicht nur annehmbar und vertraut, sondern zutiefst gewünscht und gleichzeitig und aus demselben Grund auch allgemein gefürchtet.
Dieser Hang hat allmählich die taditionellen an die Familie gebundenen Zugehörigkeits- und Abhängigkeitsverhältnisse auf die administrativen und politischen Kontrollen hin geöffnet. Und so muß man sich auch darüber nicht wundern, daß die maßlose Macht des Königs, die derart inmitten der Leidenschaften, der Rasereien, der Elende und der Gemeinheiten funktioniert hat, trotz oder vielmehr wegen ihrer Nützlichkeit, zu einem Gegenstand der Verabscheuung werden konnte. Diejenigen, die die Siegelbriefe einsetzten, und der König, der sie erließ, wurden Opfer ihrer Komplizenschaft: erstere haben ihre traditionelle Autorität mehr und mehr zugunsten einer administrativen Macht verloren; und der König, der jeden Tag in soviel Haß und Intrige verwickelt war, ist hassenswert geworden.“*

* Michel Foucault, Das Leben der infamen Menschen, 32ff.