Die Kräfte des Geistes:
1. Sehen, was sich zeigt.
2. Sagen, was man gesehen hat.
3. Hören, was gesagt wurde.
4. Tun, was man gehört hat.
5. Deuten, was getan und zu tun ist.
6. Trösten, wo sich nichts deuten lässt.
7. Zeigen, wie der Trost wirkt.
Gerechtigkeit siegt
So mancher hat im Augenblick des Sieges prompt vergessen, dass er für Gerechtigkeit gekämpft hat.
Auserzählt
In so mancher Müdigkeit verbirgt sich eine Sehnsucht, die zu lang nicht erfüllt worden ist. „Kriegsmüde“, den Ausdruck hat schon Karl Kraus als „das dümmste von allen Worten, die die Zeit hat“*, bezeichnet. Als sei einer je frisch und fröhlich in die Schlacht gezogen, der einen hellen Geist hat. Es ist der Überdruss am brutalen Konflikt, der sich als Friedenswunsch negativ artikuliert. „Politikverdrossen“, so formuliert sich nicht die Abkehr allein vom Parteibetrieb, sondern die Hoffnung auf eine Wiederkehr des Politischen, der Teilhabe an der sinnreichen Gestaltung gesellschaftlichen Lebens. „Beziehungsunfähig“, in diesem Urteil versteckt sich neben dem ärgerlichen Unglück das Bedürfnis nach einer talentierten Liebe und Freundschaft. Jede Müdigkeit ist ein Signal, dass sich etwas dringend ändern muss.
* Die Fackel, Mai 1918,153
Das Virus der Unwahrheit
Auch eine Pandemie: Menschen belügen Menschen. Und fangen an, ihrer eigenen Unwahrheit zu glauben, wenn diese von anderen als Tatsache wiedergegeben wird.
Erkläre dich
Auf der Suche nach den Beweggründen für eine bestimmte Handlung ist das Angebot an möglichen Motiven reichhaltig, auch für den, der sich sein Tun selbst erschließt. Nicht selten fällt die Wahl auf das, was plausibel erscheint, stimmig mit dem Kontext, der Kommunikation, dem Konzentrat, dessen Kunstname „Seele“ heißt. Umso mehr verwundert, wenn die ausdrückliche Ablehnung einer Deutung, in manchen Richtungen der Psychologie als Widerstand zum Theorieinhalt verklärt, ein Indiz sein soll, die richtige Spur gefunden zu haben. Da wird man den Verdacht nicht los, es mache sich einer die Sache zu leicht, indem er auf billige Art seinen Reduktionismus schützt. Wenn eine Handlung oder Haltung nichts anderes sein soll als das, was ein schnell identifiziertes Motiv nahelegt, dann kann die Abwehr einer solchen Interpretation auch nur nichts anderes sein als deren Bestätigung. Ganz und gar wird so allerdings unterschlagen, dass Menschen, weil sie im letzten undurchschaubar sind, auch für sich selbst, nicht zur Erklärung taugen, sondern Verstehen fordern.
Das Taktmaß
Man unterschätze nicht die Bedeutung eines reichen Wortschatzes für die Variantenvielfalt von Beziehungen. Je größer das Ausdrucksvermögen, desto differenzierter lassen sich Formen des Miteinanders gestalten. So manche Taktlosigkeit erscheint weniger brüsk, wenn man sie schlicht als Selbstentmündigung durch Spracharmut deutet.
Delikater Ekel
Der Hausgast, dessen Espressokonsum so intensiv ist wie die Bohnenröstung, die er nutzt, erzählt mit verklärtem Blick vom besten und teuersten Kaffee, den er je getrunken hat: eine Tasse Kopi Luwak, für deren Genuss schon einmal achtzig Dollar zu begleichen seien. Die Kaffeekirschen, und das ist der abstoßende Aspekt dieses Edelgetränks, müssen zunächst durch den Darm von Schleichkatzen wandern, deren Verdauungsenzyme die Proteine und den Säuregehalt der Bohnen verwandeln, so dass sie zum begehrten Artikel für Connaisseure werden. Da sind schon in der Vorstellung eines kulinarischen Erlebnisses die Grenzen des guten Geschmacks arg strapaziert, auch wenn es so selten gar nicht ist, dass zwischen dem raren Feinsinn fürs Wohlschmeckende und dem baren Abscheu die Schwelle niedrig ist. Wo sardischer Madenpecorino oder Stierhoden als Delikatessen durchgehen, ist die Erinnerung noch präsent, dass der Luxus einst einherging mit dem Ekel, der das eigene Leben vor dem Verderben durchs Überflüssige schützt.
Probleme verstehen
Ein Problem verstehen bedeutet nicht nur, es treffend analysieren zu können. Man muss auch seine Ursache kennen.
Geborgtes Leben
Einen Roman zu schreiben heißt, sich aus dem gelebten und dem nicht gelebten Leben an „Erlebnissen“ zu borgen, was zusammengefügt eine eigene Existenz darstellt, die so persönlich, anschaulich und kraftvoll ist, dass die Unterscheidung zwischen Verrat und Erfindung, Phantasie und Bericht nicht lohnt. Am nächsten ist der Autor seinem Stück in den Augenblicken, da ihm sein Eigenes durchs Erzählen ganz und gar fremd wird.
Die Krise der Demokratie
Die Krise der Demokratie ist die Demokratisierung der Krise. Es gibt Entscheidungsfälle, in denen der freiwillige Zwang zu Abstimmung und Zustimmung am Ende zu tiefer Verstimmung führt. In ihnen stellen Schnelligkeit und Entschlusskraft einen absoluten Wert dar, für sie ist die langwierige Übersetzung eines Problems in ein Verfahren ein Fehler mit oft fatalen Folgen. Es gehört zur politischen Klugheit, solche Situationen demokratiefest zu identifizieren und ein handlungsfähiges, weil legitimiertes Institut der urteilskräftigen Wahl zu besitzen.
Aufgefahren
Der Feiertag des Fortgangs, Christi Himmelfahrt, markiert das Ende einer Geschichte als Verheißung, als Verwandlung realer Gegenwart in eine geistige Präsenz und Repräsentanz (Apg. 1,8). Das ist der Zauber, der anders als die Illusion am Anfang einem Abschied innewohnt: die Nüchternheit, die keine Verbitterung kennt, sondern in der Kraft klarer Verhältnisse Leben realitätsdicht zu gestalten vermag. Wer nur den versäumten Möglichkeiten nachtrauert, entdeckt und ergreift nicht die Chancen, die in jeder Wirklichkeit aufs Neue warten.
Wie im Fluge
Nichts beeinflusst das Zeitgefühl so stark wie große Freude.
Systemanpassung
Das aus den Ingenieurswissenschaften entnommene Ideal der Passgenauigkeit wird, zum Prüfungskriterium erhoben, überall dort zum Problem, wo es zugleich auch das Interessante sichtbar machen soll. Dazwischen zu sein (lateinisch inter-esse) ist keine Eigenschaft, die sich einfügt. Anforderungskataloge, die es zu erfüllen gilt, lassen keinen Platz für Sperriges, Außergewöhnliches, Regelfreies, selbst wenn sie nach den Freiheitsgraden fragen. Wie lässt sich das Interessante finden? Es ist stets verbündet mit Kräften, die potenziell das System sprengen.
Gartengeometrie
Die scharf geschnittenen Hecken in Nachbars Garten, so präzise, als sei an die Kanten das Lineal angelegt worden, und der Kiesweg, in den nicht ein einziger Grashalm hineinwuchern darf, sie sind Zwangszeugen eines tiefsitzenden Misstrauens gegen die Launenhaftigkeit des Lebens. Natur ist hier zum Synonym geworden für Chaos, der Mensch, dessen Pflicht, sie sich „untertan“ zu machen, interpretiert ist im Dauereinsatz der Rasen-, Baum und Staudenscheren, befindet sich im zehrenden Kampf mit ihr: hier das Schicksal, dort sein strenger Planungswille, der das Unvorhersehbare nur bezwingen kann durch das unausgesetzte Anlegen des Werkzeugs. Nichts ist entspannt in diesem Wunderwerk gepflanzter Geometrie. Aber in der symmetrischen Form lauert schon die nächste Attacke der Natur, die das Ordnungsbestreben immer wieder listig unterläuft. Jedes Wachstum kündet letztlich vom Triumph des Unkontrollierbaren.
Liebesbeweis
Der größte Liebesbeweis: die Liebe zur Liebe bleibt intakt, auch wenn die Liebe zerbrochen ist.
Der unmündige Bürger
Aus einer Samstagslektüre:
„Wir wehren uns, wenn es um Sonderinteressen geht, um Zuschüsse, Steuervorteile, soziale Besitzstände, aber die Freiheiten, an denen alle teilhaben, finden keinen gesellschaftlichen Anwalt. Parteien und Verbände, Kirchen und Gewerkschaften sind Advokaten der allgemeinen Freiheit nur gelegentlich und zufällig, immer dann nämlich, wenn eine Freiheitseinschränkung mit dem Verbandsinteresse praktisch oder ideell kollidiert. Der ,mündige Bürger‘ wird von den Politikern verhätschelt, weil sie ihn nicht fürchten. Wenn sie Angst vor ihm hätten, würden sie, eben weil er mündig geworden ist, aufhören, ihn so zu nennen.“*
* Johannes Gross, Phönix in Asche, 176
Theologie in drei Wörtern
Glaube ist die Liebe zur Hoffnung.
Techniken des Miteinanders
Was in der Kommunikation im Argen liegt, ist weder das Unverständnis für deren Techniken noch der Mangel an Talent. Beides, technisches Können und natürliche Gabe, mögen gar zuweilen hinderlich sein. Der Schaden reicht tiefer. Drei wesentliche Punkte, aus vielen wichtigen:
1. die Angst vor Fehlern. Wer redet, riskiert sich selbst. Und begegnet sich selbst. Das muss man wollen;
2. der Unwille zuzuhören. Wahrnehmen, was andere beschäftigt oder interessieren sollte, ist nichts Passives. Wenig ist so anstrengend wie die Aufmerksamkeit auf das, was nicht das Eigene ist;
3. die Gleichgültigkeit gegenüber der Sache bei gleichzeitiger Überbetonung der Person. Es überzeugt der, bei dem erkennbar ist, dass er liebt, worüber er spricht.
Krank
Krankheiten, die ihren Namen verdienen, sind immer mehr als nur der Ausfall organischer Funktionalität. Zu ihnen gesellt sich, von Anfang an, was Patienten als Unwohlsein beschreiben, als Leiden erleben, als unrechtmäßige Besetzung territorialer Integrität, indem der Kopf plötzlich voll ist mit Themen, die er sich nicht ausgesucht hat, nicht zuletzt als Demütigung des so trügerischen Bewusstseins eigener Unverletzlichkeit. Noch immer gilt, was der lebenskluge Arzt und Philosoph Viktor von Weizsäcker in seinen „Stücken einer medizinischen Anthropologie“ geschrieben hat: „Wir verstehen die Krankheiten, aber wir verstehen dadurch nicht die Not der Krankheit und nicht, was dem Kranken nottut.“* Es ließe sich weiterformulieren: … und nicht das Notwendende, das Notwendige. Denn Krankheiten, die ihren Namen verdienen, haben etwas von diesem reinigenden Zwang zur Veränderung, der in einer früheren Denktradition einmal schicksalsergeben katharsis genannt wurde und der heute vielleicht noch schwach abgebildet ist in den unterschiedlichen Formen der Psychotherapie. Im besten Fall klären sie die Seele (über sich selbst auf).
* Gesammelte Schriften 5, 16
Entscheide dich!
Je länger wichtige Entscheidungen hinausgezögert werden, desto weniger geht es noch darum, das Richtige zu finden (das es vielleicht gar nicht gibt), als vielmehr um die Beendigung des unerträglichen Zustands der Ungewissheit.
Der Friedhof der gebrochenen Herzen
Nirgendwo keimt so viel junge Liebe wie auf den Gräbern, in denen die gebrochenen Herzen liegen.
Veränderung erklären
Allzu oft wird das Reden über Veränderung nicht genutzt, um sie vorzubereiten oder zu erklären. Sondern um sich durch das Wortemachen davon zu entlasten, dass der Wandel nicht gelingt, so nötig er ist. In der Kommunikation packt man an, was faktisch liegen bleibt.
Lesen wie ein Kind
Ein einfaches Kriterium unterscheidet die Fähigkeit zu erzählen von misslungenen Formen prosaischer Schriftstellerei. Wann immer einer Geschichte gelingt, dass ihr Adressat außer Acht lässt, was sich jenseits von ihr ereignet (in der wirklichen Welt), verdient sie den Ehrentitel „Literatur“. Unter dieser ragen Texte heraus, die den Lesern die schönsten Kindheitserfahrungen bescheren, das unmittelbare Erlebensspektrum vom Staunen bis zur Selbstvergessenheit.
Das Leben im Spiegel
Zwischen dem, was die Psychologie „Spiegelung“* nennt, und dem, was in einem Gespräch im Fundamentalsinn eine „Erwiderung“ heißen kann, besteht ein Unterschied im Ganzen. Wo die Erwiderung nach der Entsprechungstiefe zwischen Menschen sucht und Gemeinsamkeit stiftet, wirft die Spieglung den Klienten auf sich zurück und lässt ihn in seiner Einsamkeit.
* Das therapeutische Konzept der Spiegelung kennt viele Facetten, die von der Wiederholung oder Übertragung in der Psychoanalyse bis zur klientenzentrierten Form der Verhaltens- und Musterentdeckung reicht und dort vor allem ein hohes Maß an Empathie erfordert. Nicht selten aber wird es selber zur gestanzten und abgegriffenen Masche, die sich um eine Billigvariante des Leitsatzes gruppiert: Ich verstehe dich.