Ein gelungener Tag

Noch darf jeder Tag als gelungen angesehen werden, der Zeit genug schenkt, sich in einem Buch zu verlieren, was so viel bedeutet wie: mit fremden Worten zu denken, weil man vergessen hat, dass man liest; sich in unbekannten Situationen vorfinden, weil die Erzählung in den Text hineingezogen hat; die Leere spüren, die plötzlich einsetzt, sobald die letzte Seite umgeschlagen ist. Alle Lektüre zielt auf die Selbstvergessenheit des Rezipienten.

Politikbetrieb

Das Problem des Politikbetriebs: zu viel Betrieb, zu wenig Politik. Die Routinierten der Macht haben vergessen, wie groß die Macht ist, die im Unroutinierten liegt.

Verkaufsinitiative

Es ist ein Fehler zu meinen, dass ein Unternehmen, das aufhört, etwas zu verkaufen, weil die Märkte sich wandeln, wieder erfolgreich wird, wenn es sich an die Märkte so anpasst, dass es beginnt, sich zu verkaufen.

Absolut glücklich

Der Absolutheitsanspruch des Glücks artikuliert sich in einer Alternative: entweder du verlierst dich, oder du verlierst mich.

Lückenfüller

Dass die, die das Sagen haben, nicht immer was zu sagen haben, ist der Anlass zu Beratung.

Vorteil Vorurteil

Das ist der Vorteil des Vorurteils: Man weiß schon vorher, warum einer das sagt, was er dann sagt.

Wach im Geist

Ein geistig wacher Mensch kennt seine Zukunft, noch bevor er ihr begegnet.

Autokratie und Demokratie

Demokratie: Freiheit instrumentalisiert die Macht.
Autokratie: Macht instrumentalisiert die Freiheit.

Faulig

Es gibt ein einfaches Kriterium, nach dem eine Übereinkunft zwischen heftig widerstreitenden Parteien als geglückt bezeichnet werden kann: Der Kompromiss ist so lange kein faul(ig)er, wie er diejenigen nicht kompromittiert, die ihn geschlossen haben. Es scheint, dass das in demokratisch verfassten Gesellschaften politisch immer seltener möglich sein wird.

Sei anständig

Der erhobene Zeigefinger, gelegentlich auf den politischen Gegner gerichtet, zeugt von der Verlogenheit der Anstandsgeste in einem Betrieb, in dem die hohen Prinzipien dem Zwang zur Pragmatik noch stets geopfert werden. Wer die Politik moralisiert, politisiert die Moral. Beides verträgt sich nicht instrumentell, seit lange Kriege geführt wurden, nur weil man sich dem Gegner so in der Wahrheitserkenntnis überlegen dünkte, dass man ihn kurzerhand zum Feind erklärte. Der Vorwurf der Unanständigkeit hat oft etwas Hilfloses, inszeniert wie im Schwarzweißfamilienfilm, wenn der knöchrige Opa nach dem Jungenstreich wütend mit dem Stock in der Luft herumfuchtelt, auch wenn er als Ordnungsruf zur Geschäftsgrundlage zurückführen will. Und gar nichts Erhabenes, gerade weil mit ihm einer sich über den anderen erhebt. Im Politischen gilt, dass solcherart Urteile dem Beobachter, und letztlich dem Wähler, überlassen bleiben sollten. Sie könnten sonst unversehens zum Bumerang werden.

Ober sticht Unter

Für den Narzissten ist die Ordnung der Welt ganz einfach: Sie ist hierarchisch. Und Oben ist, wo er steht.

Nach dem Sturm

Der Sturm, der mit Orkanstärke über die Insel gefegt ist, hat sich gelegt. An einen Spaziergang am Meer war in den naturgewaltigen Tagen davor nicht zu denken. Zu wild, zu mächtig blies das Wetter seine Backen auf und pustete das Zeug, das sich nicht mehr halten konnte, über die Weiden, ausgerichtet wie an einer straffen Schnur: Mülltonnen, die nicht beschwert waren, Kunststoffkanister, Unrat, Sand, den Weihnachtsschmuck, der sich vom Baum vor der Tür gelöst hatte, Papierfetzen. So mancher war auf das Eiland gekommen, um in den ruhigen Tagen den Kopf zu klären. Nun saß er am Kachelofen und schaute trübe ins tobende Trübe. Ob die Gedanken heller geworden sind? Vielleicht nicht, aber in jedem Fall wesentlicher. Was das heißt? Sollte man es vergessen haben, so weiß man wieder, worauf es einem ankommt. Wenn die Weite unerreichbar ist, öffnet sich die Tiefe: für die einen als Abgrund, den anderen als Fundament.

Das Ende der Gewalt

Man muss es leider so sagen: Erst, wenn Gewalt keine Nachricht mehr wert ist, wird die Macht jener aufhören, die mit ihr Angst und Schrecken einzujagen versuchen. Es ist der Moment, in dem Menschen nichts mehr zu verlieren haben. Und sich entscheidet, ob sie sich verloren geben.

Übergangszeit

Aus einer Neujahrslektüre

Heute zwischen Gestern und Morgen

Wie Gestern und Morgen
sich mächtig vermischen!
Hier ein Stuhl – da ein Stuhl –
und wir immer dazwischen!
Liebliche Veilchen im März –
Nicht mehr.
Proletarier-Staat mit Herz –
Noch nicht.
Noch ist es nicht so weit.
Denn wir leben –
denn wir leben
in einer Übergangszeit –!

Geplappertes A – B – C
bei den alten Semestern.
Fraternité – Liberté –
ist das von gestern?
Festgefügtes Gebot?
Nicht mehr.
Flattert die Fahne rot?
Noch nicht.
Noch ist es nicht so weit.
Denn wir leben –
denn wir leben
in einer Übergangszeit –!

Antwort auf Fragen
wollen alle dir geben.
Du mußt es tragen: ungesichertes Leben.
Kreuz und rasselnder Ruhm –
Nicht mehr.
Befreiendes Menschentum –
Noch nicht.
Noch ist es nicht so weit.
Denn wir leben –
denn wir leben
in einer Übergangszeit –!*

* Kurt Tucholsky als Theobald Tiger, in: Gesammelte Werke 1932, Band 10, 90f.

Jahreswechsel, kurz und knapp

Vergessen ist die Vergangenheit der Zukunft.
Erinnerung ist die Zukunft der Vergangenheit.

Falsche Propheten

Kurz vor dem Datumswechsel kommt die Zeit der Jahresausblicke. Da behaupten einige, genauer zu sehen und mehr zu wissen als das Gros. Diese modernen Propheten zielen auf Bestätigung, doch es sind nicht die vielfach fragwürdigen Voraussagen, die sie erfüllt sehen wollen, sondern sie suchen beglückte Klienten, die so ihre eigenen Ansichten attestiert bekommen. Nie ist Zukunft gewisser als in den Augenblicken, da sie die privaten Erwartungen getreu, wenn auch nicht immer wirklichkeitsgetreu, abbildet.

Falsches Spiel

Zu den fragwürdigen Folgen einer Wirklichkeitswahrnehmung, die immer weniger die Unterscheidung aufrechterhalten kann zwischen Wahrheit und Lüge, Faktum und Fake, Realität und Fiktion, gehört das Läppische. Nicht der Ernst wächst, die Anstrengung um diese Grunddifferenzen, sondern im Gegenteil das Nonchalante, Unbekümmerte, Sorglose. Eine Welt, die nicht mehr kämpft um Tatsächlichkeit, Sachlichkeit oder das richtige Leben, überlässt das Feld den Glückrittern. In ihr kommt es auf nichts mehr an als aufs Spiel, an dessen Ende die einzige belastbare Unterscheidung noch heißt: Sieg oder Niederlage.

Zwischenzeit

Im Idealfall ist alles erledigt. Die Rechnungen sind bezahlt, die Post ist verschickt, der Schreibtisch aufgeräumt. Dann gehört die Zeit zwischen den Jahren zu den schönsten, wenn auch nicht immer sinnvollsten Unterbrechungen des Arbeitsalltags. Nur auf den ersten Blick allerdings verschafft das Nichtsttun Momente des Glücks, das allein die Langeweile kennt und das sich einstellt beim sentimentalen Sortieren alter Urlaubsfotos, dem rituellen Wiedersehen von Filmklassikern, dem Freundesbesuch, der oft verschoben worden war, oder verschwenderischem Daddeln auf dem Smartphone. In Wahrheit ist es nicht die leere Zeit, die Befriedigung schenkt, sondern dass wir die Wahl haben, nicht Arbeitsfreiheit, sondern die Freiheit zu arbeiten, oder es zu lassen, nicht Terminentlastung, sondern die Selbstbestimmung in Verabredungen. So verliert sich FOMO, die Angst, etwas zu verpassen, es sei denn, man folgt dem nächsten Trend, dem rawdogging, das ursprünglich sexuell konnotiert, genommen wird als Bezeichnung für Männer, die sich zwingen, diszipliniert stundenlang ins Leere zu starren, und so aus dem Nichtstun den nächsten Leistungsnachweis geformt haben.

Nachrichtenlage

Jeder Jahresrückblick zeigt die Schrecknisse im Großen und das Glück im Kleinen. Ginge es auch umgekehrt? Das Unheil lässt sich individualisieren; die Segensgabe indes nicht sozialisieren.

Psychologie der Religion

Wenn es, psychologisch gesehen, einen Antichrist gibt, das Gegenteil des Christus, dann ist es der Narzisst. Dessen Ich gilt als so schwach, dass es am Ende nichts will als sich selbst, nicht zuletzt indem es andere opfert. Wohingegen jener, der nach der Legende in einem armseligen Stall geboren sein soll, vorgestellt wird als ein Ich, das so stark zu sein anmutet, dass es von Anfang an nichts für sich will, indem es sich opfert für andere.

So und so gesehen

 

Warum beide, Pessimismus und Optimismus, recht haben. – Charlie Brown im Gespräch mit Snoopy, dem philosophischen Hund aus der Feder von Charles M. Schulz

Zwischen Verniedlichung und Zumutung

Die verniedlichende Folklore, es könne ein Krippenkind die Welt erlösen, wird nur noch überboten von der Zumutung, dies sei die Leistung eines Toten, der am Kreuz elendig erstickte. Was freilich beide Lebensphasen Jesu verbindet, ja sein gesamtes Wirken kennzeichnet, ist das Urteil, in allem sei er ein Unschuldiger. Das ist das wahre Wunder der Weihnacht, dass ein Mensch von Anfang bis zum Ende sich an nichts und niemandem vergangen, alles hingegeben und nichts vorbehalten hat. Die Geschichten, die über seinen Lebensbeginn erzählt werden, handeln – nicht vornehmlich von ritueller Reinheit, sondern – von einer Makellosigkeit, die der erste Theologe Paulus beschrieb als fundamentale Unkenntnis: Dieser Mensch ist der einzige, „der von keiner Sünde wusste“ (1. Kor. 5, 21), was nicht zu verwechseln ist mit moralischer Naivität. Das Böse ist ihm schlicht fremd. Wohingegen es uns im besten Fall als befremdlich erscheint. Es ist diese ungetrübte Unschuld, die in Bethlehems Stall genau so bestaunt wird, wie wir sie für jedes Neugeborene erhoffen und wünschen, es möge nicht allzu schnell mit der Härte der Realität konfrontiert werden und könne wohlbehütet aufwachsen. Nur dass diese Realitätshärte im Bericht vom neugeborenen Gottessohn dann gleich rücksichtslos mit Obdachlosigkeit und Unbehaustheit, Stallgestank und den Mordgelüsten eines orientalischen Potentaten zuschlägt. Die Unschuld Jesu, so die Erzählungen, muss sich in der Weltwirklichkeit als unkorrumpierbar erweisen, darf nicht von Trotz, Bitterkeit, Zynismus, Hass befallen werden. Sofern ihr das gelingt, bleibt eines ausgeschlossen: Ein solcher Mensch taugt nicht als Vorbild. Er ist der „ganz Andere“. Das aber ist die Eigenschaft Gottes, ganz und gar anders zu sein. Genau dies ist die Botschaft der Weihnachtsgeschichte: Gott kommt anders, und bleibt es. Eignet sich das, die Vorstellung zu nähren, so einer könne ein Erlöser sein? Wer sonst sollte es, wo doch selbst in dem Augenblick, da die Todesstrafe über diesen Menschen verhängt wurde, er nicht einmal da etwas für sich wollte, sondern sein unschuldiges Leben einsetzte für uns.

Der Weltkomplex

Das Dilemma der Komplexität:
Man kann die Welt nicht verstehen, ohne sie zu beschreiben.
Man kann die Welt nicht beschreiben, ohne sie zu verstehen.

Ausgelacht

Aus einer Sonntagabendlektüre

„Käme Christus jetzt zur Welt, so würde er doch vielleicht nicht getötet werden, sondern ausgelacht. Dies ist das Martyrium in der Zeit des Verstandes; in der Zeit des Gefühls und der Leidenschaft wird man getötet.“*

*Sören Kierkegaard, Die Tagebücher. Dritter Band, 115