Man ist unter sich

Politiker, Medienleute, Wissenschaftler, Fachidioten, Vorstände – man ist unter sich. Hier gilt die alte Regel: je mehr Selbstreferenz, desto stärker ist der Realitätsverlust.

Eine gemeinsame Sprache

In Beziehungen (unter Ehepartnern, zwischen Politikern und dem Wahlvolk, in Gesprächsrunden von Wissenschaftlern oder bei Sportmannschaften in der Kommunikation von Trainern mit Spielern) kriselt es immer dann, wenn keine gemeinsame Sprache mehr gefunden wird. Das bedeutet nicht, dass dieselben Begriffe gebraucht werden, sondern dass es möglich ist, trotz unterschiedlicher Wörter ein verbindendes Verständnis in der Sache zu erzielen.

Einfach mal den Mund halten

Zum Grundrecht auf Meinungsfreiheit gehört auch, frei von einer Meinung zu sein.

Karriereknick

So mancher Karriereknick ergibt sich erst, wenn der Aufstieg auf der Postenleiter sonderlich schnell und erfolgreich gelang. Dann ist nicht die berufliche Laufbahn brüchig geworden, aber das private Leben hat einen Knacks bekommen.

Wählerbeschimpfung

Auch plebs ist das Volk, das eine Stimme hat, die es abgeben kann. So manche Äußerung derer, die dem Lockruf der Populisten folgen, zeugt von einer Dummheit und Dreistigkeit, die düstere Gedanken aufkommen lassen, Artikel 38 des Grundgesetzes zu erweitern um einschränkende Bildungsvoraussetzungen für Wahlen. Diese Art der Wählerbeschimpfung setzte nicht an beim unpassenden Ergebnis, sondern dort, wo es dem Souverän nicht gelingt, das Niveau zu erreichen, das nötig wäre, eine begründete Entscheidung zu fällen. Könnte es nicht Zugangsberechtigungen zum Urnengang geben, die nicht allein ans Lebensalter gebunden sind, sondern jenseits von Gesinnungen an ein bestimmtes Level von Vernünftigkeit gekoppelt (dasselbe gälte dann freilich auch für Politiker) – wie es ja auch möglich ist, in Restaurants oder Discos abzuweisen, wer sich nicht an Dresscodes oder Gepflogenheiten hält? Es gibt nach den Wahlen Anlass zur Fremdscham, die sich nicht der Fremden schämt, die im Land wohnen, sondern der Eigenen.

Künstliche Autorität

Autorität ist immer jene Kunstform der Nähe, die sich über Abgrenzung bestimmt von dem, dem sie nahekommt. Da bedeutet Hinwendung nicht das Gegenteil von Wegwendung; diese ist vielmehr die Bedingung für jene.

Paarbeziehungen von Körperteilen

Wer sein Herz auf der Zunge trägt, darf sich nicht wundern, wenn er gelegentlich Hals über Kopf seine Beine in die Hand nehmen muss, auch wenn Hand und Fuß hat, was er frei von der Leber weg gesagt hatte. Es traf halt jemanden, der Haare auf den Zähnen hat.

Öffentliche Kunst

Was den Künstler zum Künstler macht: der Applaus. Es gibt kein Werk, das nicht zuvor der Öffentlichkeit zur Beurteilung vorgelegt worden wäre. Alles andere sei Hobby, Handwerk, das diskrete Spiel mit den eigenen Talenten genannt. Um das auszuhalten, sich dem Publikum in dieser Art im letzten auszuliefern, ist eine heimliche Verachtung nötig derer, die zwar nicht können, was die Meisterschaft in der Sache ausmacht, aber die Macht über sie haben. Zu ihr gesellt sich nicht zuletzt die oft als übersteigertes Selbstbewusstsein sich darstellende Geringschätzung des Eigenen, die nicht erträgt, dass absolute Freiheit eine Folge absoluter Abhängigkeit ist.

Deutschland, wir haben ein Problem

Reflexe sind nichts, was Probleme bewältigt, die sich in den gewohnten Weg stellen. Oft sind sie Fluchtreaktionen vor veränderten Wirklichkeiten, Realitätsverweigerungen, Verblendungen. Zu solchen Reflexen gehören die Floskeln: „Wir haben verstanden“ oder die Scheinlösung: „Wir müssen besser kommunizieren“. So werden katastrophale Wahlergebnisse geschönt. Das Gegenteil gilt: Gerade nicht versteht, wer meint, durch verstärkte Erklärmaßnahmen ließe sich künftig verhindern, politisch abgestraft zu werden. Was der Bürger sich von seinen Volksvertretern wünscht: einen wachen Geist, einen klaren Verstand, eine ehrliche Einsicht und vor allem Vertrauen in die Urteilskraft derer, die ihre Stimme abgeben. Das hätte zur Folge, dass so manches Problem erst einmal auszuhalten ist, bevor man nach einer Lösung sucht.

Wenn Vernunft herrscht

Das ist der Alltag der Demokratie: die Notwenigkeit, sich zu streiten, zum Anlass zu nehmen, sich einigen zu müssen. Das geht nur, wenn jeder, der sich politisch engagiert, über die Fähigkeit verfügt, die Welt aus mehr als einer Perspektive sehen zu können. Daraus folgt: Ausgeschlossen wird nur, wem das nicht gelingt.

Politik aus dem Ressentiment

Die politisch Rechtsextremen lassen sich nicht entzaubern, weil sie noch nie bezaubert haben. Da ist nichts Magisches. Selbst das Blau, die Parteifarbe, ist dumpf. Es leuchtet nicht, hat keine Strahlkraft. Ihm fehlt alles, womit Blau sonst faszinieren kann. Wer aus dem Ressentiment heraus Stimmung macht für das Ressentiment, braucht keine Argumente, nur Anwürfe. Er ist ins Misslingen so sehr verliebt, um es auszuschlachten, dass ihn ein Wahlerfolg in Wahrheit irritieren müsste. Eigentlich müsste dieser ihn beleidigen; denn jede Stimme für den rechten Rand in der Politik führt ihm vor, dass wider alle Behauptungen es noch immer möglich ist, seine Stimme zu erheben und zu sagen, was man denkt. Apropos Beleidigen: Auffälliger noch als sein ständiges Beleidigen des Gegners ist sein Beleidigtsein. Mit ihm zeigt er seine ganze Verachtung der parlamentarischen Demokratie, will sie doch seine Talente, die er zu ihrer Rettung anbietet, nicht in Anspruch nehmen. Glückt etwas, kommt nie Freude auf, sondern immer Schadenfreude, weil seine Engstirnigkeit das Glück nur zweidimensional als Gegenteil von Unglück sieht. Seine Logik kennt nur eine Regel: wenn die anderen verlieren, hat er gewonnen.

Der Osten wählt

Am Wochenende entscheiden Menschen in Ostdeutschland, ob sie den Schlechtgelaunten die Macht überlassen wollen. Das ist der wahre Ernst dieser Richtungswahl. Eine Politik, die keinen Spaß versteht, mündet in Gewalt.

Faltenreich

In manchen Gesichtern hinterlässt das ungelebte Leben deutlich tiefere Spuren als das gelebte.

Was geht?

Zum 275. Geburtstag Goethes

„Jede Lösung eines Problems ist ein neues Problem.“*

* Gespräch mit Friedrich von Müller am 8. Juni 1821

Wenn die Bahn Wege ebnet: So geht‘s nicht

Verständig und vernünftig

Man kann Verstand und Vernunft, die beiden Talente des Bewusstseins, klar unterscheiden in ihrem Verhältnis zur Zeit: Verständig ist, wer sich der Vergangenheit analytisch zuwendet und strukturiert erklären kann, was (schon) ist. Als vernünftig gilt, wer sich auf die Zukunft antizipativ bezieht und sich deutlich vorstellen kann, was (noch) kommt.

Eingeständnis

Es ist schlechter Stil in der Politik, Fehler korrigieren zu wollen, ohne sie vorher eingestanden zu haben. So verbessert einer vielleicht die Lage; aber er befördert auch den Eindruck von Verantwortungslosigkeit, Gelegenheitsgünstlingswirtschaft und Feigheit. Das Bekenntnis, geirrt zu haben, ist oft werthaltiger als die Beseitigung des Missgriffs. Wo die empfindlichste Errungenschaft einer Demokratie berührt ist, nämlich dass Freiheit und Sicherheit nicht gegeneinander ausgespielt werden müssen, ist beides Pflicht: Selbstkritik und Veränderung.

Teilen und Aussuchen

Aus einer Sonntagslektüre

„Die Frage: Wie gehen wir miteinander um? ist eine der grundlegendsten und ältesten. Denn überall, wo Menschen zusammenleben, gibt es Konflikte und Streit. Das fängt auf dem Spielplatz an, geht weiter auf dem Schulhof und setzt sich fort im Betrieb, wo das Arbeitsklima oft durch Machtstrukturen, Ehrgeiz, Neid, Missgunst und Gewinnsucht geprägt ist. Jeder will etwas anderes und möchte es gerne durchsetzen. Ungleichheiten verstärken sich, die Wortführer bringen die anderen zum Schweigen, die Stärkeren unterdrücken die Schwächeren. Solche gruppendynamischen Prozesse stellen sich immer wieder ein, auch in der Familie unter den Geschwistern. Deshalb haben sich hier allgemeine Regeln ausgebildet, die das Recht des Stärkeren einschränken. Dazu gehört zum Beispiel eine einfache Faustregel, nach der gehandelt wird, wenn es unter den Geschwistern etwas zu verteilen gibt. Sie lautet: Der eine teilt, der andere sucht aus. Auf diese Weise sind alle zufrieden und niemand muss sich benachteiligt fühlen. Es ist immer gut, wenn nicht nur einer bestimmt. Das ist ja auch die Grundidee der Demokratie. In dieser ebenso schlichten wie genialen Regel steckt schon das wichtige Prinzip der Gewaltenteilung, das den Kern der Demokratie ausmacht und dem Rechtsstaat zugrunde liegt.“*

* Aleida Assmann, Menschenrechte und Menschenpflichten, 26

Die Frage, die die Technik begleitet

Mit jeder technischen Neuerung stellt sich die Frage: Schaffen wir zu beherrschen, was wir gerade geschaffen haben? Die Antwort reicht weit hinaus über das Talent, eine Gebrauchsanleitung zu verstehen.

Begeisterung

Was ist Begeisterung: die Ahnung, dass der Optimismus epidemisch werden könnte.

Lebensformel

Man könnte die Anstrengungen des Lebens leicht auf eine einzige Formel bringen: möglichst lang vermisst zu werden, wenn man dereinst nicht mehr da ist.

Feste Freunde

Es ist Unsinn, nach dem Zweck zu suchen, den Gespräche mit Freunden haben. Und dennoch erfüllen sie zuverlässig einen Sinn: Sie schützen vor den Entmutigungen, mit denen das Leben sich selbst talentiert behindert.

Der Gewinn des Lächelns

Wenn Lachen zum Lächeln wird, verkleinert sich nur der Gesichtsausdruck. Sein Bedeutungsreichtum indes wächst immens, vom gewinnenden Strahlen übers Schmunzeln, dem feinen Spott, der lautlosen Zustimmung oder Verlegenheit bis zur kaschierten Trauer. Die Verringerung physiognomischer Eindeutigkeit schafft Raum für die Vielfalt psychologischer Interpretation.

Reisesüchtig

Reisen ist wie eine Sucht. Je öfter die Orte gewechselt haben, je weiter die Ziele schon gesteckt wurden, desto weniger locken die neuen Umgebungen. Nicht dass man alles schon gesehen hat, aber zu allem fällt einem irgendetwas ein, was anderswo ähnlich vorkommt. Langeweile setzt ein schon im Moment, da man weiß, wieder fortzumüssen. Sie zu vertreiben, ist die Funktion elender Steigerungen: noch höher hinaus, noch abenteuerlustiger, noch luxuriöser oder schlichter, noch, noch, noch … Bis es am Ende nichts Reizvolleres gibt als das eigene Zuhause, in dem man all den Interessierten erzählen kann, wie schön es andernorts ist.

Kein Kavaliersdelikt

Ähnlich wie die Fahrerflucht, die sich um die selbstverursachten Beulen im Blech nicht schert, wirkt die Gesprächsflucht. Auch da kümmert sich der, der mit seinen Worten Schäden verantwortlich ausgelöst hat, nicht um die Folgen seiner Handlungen. Er verschwindet einfach aus dem gerade noch vertrauten Dialog und hinterlässt mit seiner Wortlosigkeit nicht selten Ratlosigkeit, Verletztheit, das Gefühl von missbräuchlichem Ausgenutztsein. Im Verkehrsrecht gilt das unerlaubte Entfernen vom Unfallort als Straftat, es ist kein Kavaliersdelikt. Nicht einmal moralisch geächtet hingegen wird, wer sich feige davonmacht aus einem bedeutsamen Austausch.