Aufwachen

Träume haben ein Ende, die Geschichten, die man träumt, nie. Dass etwas aufhören kann, ist das stärkste Signum von Realität.

Sättigungsbeilage

Fast Food ist nicht nur ein Frontalangriff auf sämtliche Sinnesempfindungen, die sich beim Essen einstellen wollen: Geschmackserlebnisse, Duftwahrnehmungen, Zungenfreuden. Es heißt auch nicht nur so, weil die Speisen schnell hergerichtet sind, meist aufgewärmt in der Mikrowelle. Rasch sind diese Gerichte auch bei der Beseitigung des Hungergefühls, das plötzlich ins Gegenteil einer Anlagerung von schwerster Kost im Magenraum umschlägt, fast übergangslos. Man wird gesättigt, nicht bloß satt. Der Gesättigte verliert den Appetit, der Satte den Hunger.

Zu viel zu verlieren

Feigheit ist die Schwäche dessen, der glaubt, dass er viel zu verlieren hat.

Beendet, nicht vollendet

Von Michelangelo wird erzählt, dass er, der Meister der dynamischen Form, der wie kein anderer seinen steinernen Figuren Leben eingehaucht hat, immer wieder die Arbeit unterbrach, ja abbrach, wenn er den Eindruck hatte, dass das Material sich widersetzte, dass aus dem Marmor die Skulptur sich nicht fügsam herausschälen ließe. Der Block, den er mit seinem Meißel behandelte, galt wie ein Gesetz, das sich gegen die autonome Gestaltungskraft richtete. Im Widerstreit zwischen Kunstwillen und Natur tauchte plötzlich ein Moment der Ehrfurcht auf, das zögern ließ und das eigene Bestreben einbremste. So blieb manches unfertig, nicht aus Unvermögen, sondern aus Prinzip. Das ist das Los jedes Endes, das Menschen setzen. Ob die Sache auch vollendet ist, das entscheiden nicht sie.

Wider die Dummheit

Der Theologe Dietrich Bonhoeffer, der von Nationalsozialisten ermordet wurde, über die Wehrhaftigkeit wider gesellschaftliche Dummheit:
Bei genauerem Zusehen zeigt sich, dass jede starke äußere Machtentfaltung, sei sie politischer oder religiöser Art, einen großen Teil der Menschen mit Dummheit schlägt. Ja, es hat den Anschein, als sei das geradezu ein soziologisch-psychologisches Gesetz. Die Macht der einen braucht die Dummheit der anderen. Der Vorgang ist dabei nicht der, dass bestimmte – also etwa intellektuelle – Anlagen des Menschen plötzlich verkümmern oder ausfallen, sondern dass unter dem überwältigenden Eindruck der Machtentfaltung dem Menschen seine innere Selbständigkeit geraubt wird und dass dieser nun – mehr oder weniger unbewusst – darauf verzichtet, zu den sich ergebenden Lebenslagen ein eigenes Verhalten zu finden.“*

* Widerstand und Ergebung, 17f.

Miteinander leben

Der Zweck im Miteinander: füreinander
Die Versuchung im Miteinander: ineinander
Die Wirklichkeit des Miteinanders: nebeneinander
Die Hoffnung des Miteinanders: nie ohne einander
Die Gefährdung des Miteinanders: gegeneinander
Die zweite Gefährdung des Miteinanders: aufeinander
Die Stärke des Miteinanders: beieinander
Das Ende des Miteinanders: auseinander
Die Abhängigkeit im Miteinander: aneinander
Das Ziel des Miteinanders: zueinander
Die Nüchternheit im Miteinander: voreinander
Die Rücksicht im Miteinander: nacheinander

Sätze wie Eier

Die schärfste Kritik an der Form des Aphorismus ist dieser Aphorismus: „Er legt Sätze wie Eier, aber er vergisst, sie zu bebrüten.“*

* Elias Canetti, Aufzeichnungen 1942 – 1972, 255

Mimosen, die manipulieren

Gesten unserer Gesellschaft: Mimosen, die sich durch Geringfügigstes verletzt fühlen, und Kleinlaute, die sich prompt reumütig mit einer Entschuldigung erniedrigen. Wo solche Empfindlichkeit auf diese Bußfertigkeit trifft, hat sich ein Manipulationsspiel etabliert, das seine Erfolgschancen immer wieder auslotet.

Transferfenster

Die beste Zeit für Veränderung ist jene Zeit, in der es keine Veränderung braucht.

Sei a Mensch*

Der Mensch ist das Wesen, das sich immer wieder daran erinnern (lassen) muss, ein Mensch zu sein.

* Marcel Reif, der das Vermächtnis seines Vaters zitiert während der Gedenkstunde des Deutschen Bundestags, die begangen wird in Erinnerung an die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch Soldaten der Roten Armee am 27. Januar 1945

Besser nicht

Das deutsche Vergleichs- und Kunstwort „Besserverdiener“, das fast exklusiv für die Bezeichnung einer Quelle zur Auffrischung des leergeschöpften Staatshaushalts herhalten muss, ist zutiefst falsch. Es operiert mit einer Qualitätsangabe, um ein quantitatives Surplus zu benennen. Gemeint ist, dass einer mehr verdient als viele andere. Ob er auch besser verdient? Das bedeutete doch, dass er sich geschickter, schlauer anstellt; und sei es, dass er bei gleichem Lohn seine Arbeit schlanker verrichtet. Nicht wenige der „Besserverdiener“ erwirtschaften aber ihren Überertrag unter harten, zehrenden, nicht wirklich stressfreien Bedingungen. Der Rest ist kaum zweckfreie Schönfärberei. Und die ungezählten echten „Besserverdiener“ geraten erst gar nicht in den Blick.

Eine Stimme

Die ungezählten Demonstrationen „gegen rechts“, die derzeit überall im Land stattfinden und erste Erfolge zeitigen, nehmen auf, was es in einer Demokratie bedeutet, eine Stimme zu haben. Damit ist nicht nur das Prinzip der Wahlgleichheit gemeint, das – one person, one vote – jeder Stimme den identischen Zählwert beimisst und somit dieselbe Erfolgschance, sondern, vielmehr, die Fähigkeit, aus einer Vielstimmigkeit ein einziges, kraftvolles Votum abzuleiten. Wenn diejenigen, die für den Erhalt und die Förderung von Vielfalt auf die Straße gehen, es schaffen, mit einer lautstarken Stimme zu sprechen, dann realisieren sie die hohe Kunst politischer und gesellschaftlicher Freiheit: Einheit bindend bilden zu können, weil die Unterschiede geachtet werden.

Lass los

Definition von Gelassenheit: Dominanz, ohne die Kontrolle haben zu müssen.

Farbenlehre der Rhetorik

Man darf nicht mehr ganz grün hinter den Ohren sein, um so ins Blaue hinein reden zu können, dass man voll ins Schwarze trifft.

Machtstreben

Manager, das ist nicht selten die erfolgreiche Verbindung von Fleiß und Feigheit, Ambition und Angst, Machtdrang und Mutlosigkeit.

Loyalität

Kurze Bestimmung von Loyalität: Sie ist immer der Widerstand, den man günstigeren Gelegenheiten entgegenbringt. Schon der Wortkern, der auf das Gesetz, die Vorschrift, das Gebot verweist, la loi im Französischen, enthält jene besondere Beziehung, die sich einer Vertragstreue bewusst ist, ohne dass es formal bindende Kontrakte geben muss. Im Grunde ersetzt Loyalität den Schutz, den sonst schriftlich festgehaltene Vereinbarungen bieten, ja sie liegt diesen voraus, weil sie den informellen Grund darstellt, auf dem Abkommen zu treffen und Übereinkommen zu schließen überhaupt erst gelingt. Illoyalität ist daher mehr als die Kündigung solcher Arrangements, sondern der Verrat an ihrer Möglichkeit.

Hören und Sehen vergehen

Große Kunst: wenn ein Maler so zu sehen gibt, dass dem Betrachter des Bildes vor lauter Eindrücken das Hören vergeht; wenn ein Musiker die Töne so spielt, dass dem Hörer in der Beglückung durch die Melodie das Sehen vergeht. Die Meisterschaft im Werk zeichnet sich ab als Verdichtung der Sinnlichkeit des Rezipienten auf einen Sinn.

Die Ewiggestrigen

Es ist ein sicheres Indiz, dass mit der Gegenwart etwas nicht stimmt, wenn das Vergangene für das gehalten wird, was eine Zukunft hat.

Lebensklugheit

Wie viele merken erst im Alter, wenn sie aus ihren Positionen ausscheiden, dass ein Gutteil von Freiheit aus der Fähigkeit rührt, Ämter von den Aufgaben, die sie mit sich führen, trennen zu können. Wo man jene getrost aufgeben kann, ohne fürchten zu müssen, dass diese weniger werden, drückt sich Lebensklugheit in ihrer wertvollsten und überlegensten Form aus: als Souveränität.

Entscheidungsrelevanz

Das Gewicht einer Entscheidung wird weniger bestimmt durch das, was sie gewählt hat, als vielmehr durch das, was sie damit ausschließt.

Laut geben, laut werden

Aus einer Samstagslektüre

„Wir können wieder zu Bestien werden. Aber wenn wir Menschen bleiben wollen, dann gibt es nur einen Weg, den Weg in die offene Gesellschaft. Wir müssen ins Unbekannte, ins Ungewisse, ins Unsichere weiterschreiten und die Vernunft, die uns gegeben ist, verwenden, um, so gut wir es eben können, für beides zu planen: nicht nur für Sicherheit, sondern zugleich auch für Freiheit.“*

* Karl Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, 1, 268

Dafür und Dagegen

Demokratie als dialektische Kurzformel: Sie ist die politische Identität von Identität und Nichtidentität.

Zeit haben, Zeit nehmen

Freiheit und Fremdbestimmtheit sind Eigenschaften der eigenen Zeit. Die Differenz liegt der Unterscheidung voraus, ob ich sie für mich nutze oder von anderen besetzt sein lasse. Ich kann Souverän der Bereitschaft sein, von mir abzusehen, und gezwungen, mich mit mir selbst zu befassen.

Vertrauensschwund

Das Bemühen, den Bürger zu entlasten – von bürokratischen Pflichten, aufgeblähten Verwaltungen, hohen Steuern –, könnte am einfachsten erfüllt sein, wenn die Regierung dem Souverän mehr vertraute (und nicht umgekehrt sich darum sorgte, dass das Volk ihrer Politik das Vertrauen entzieht). Nichts erleichtert das Leben und das Zusammenleben mehr als der Glaube in das prinzipielle Wohlwollen des anderen. Die Misere, in der wir politisch stecken, hat ihren Ausgang genommen bei einem fatalen Missverständnis: dass Führung vor allem Kontrolle bedeutet. Sie ist im Gegenteil die Anstrengung, diese nicht mehr nötig sein zu lassen.