Vergiss mein nicht

Das Schönste an der Liebe ist ihre grenzenlose Vergesslichkeit. Jedes neu entflammte Verliebtsein begleitet zuverlässig ein großer Gedächtnisschwund darüber, wie sie enden kann. Nicht dann ist eine Liebe erwachsen, wenn sie einkalkuliert, dass sie einmal aufhören wird. Sondern wenn diese Gewissheit sie nicht hindert, sich zu riskieren.

Durch die Brille betrachtet

Eckermann schreibt, dass der alte Goethe kein Freund von Brillen gewesen ist. Und er berichtet es so, dass es unter den Besuchern des Dichters wohl allgemein bekannt war. Die Überempfindlichkeit gegenüber Menschen mit Sehhilfen wird in der Gesprächsnotiz aufgespreizt als breites Abneigungsspektrum: Da ist die Rede von einer unerklärlichen Verstimmung, derer Goethe nicht Herr sei, von verderbten Gedanken, dem „Eindruck des Desobligeanten, ungefähr so, als wollte ein Fremder mir bei der ersten Begrüßung sogleich eine Grobheit sagen“. Ja, auch verletzte Eitelkeit fehlt nicht: „ Kommt nun ein Fremder mit der Brille, so denke ich gleich: er hat deine neuesten Gedichte nicht gelesen – und das ist schon ein wenig zu seinem Nachteil; oder: er hat sie gelesen, er kennt deine Eigenheit und setzt sich darüber hinaus – und das ist noch schlimmer.“ Am Ende des Gesprächs rückt der Großschriftsteller mit der Wahrheit heraus. Schlimm sei das Gesehenwerden, ohne das Sehen selber sehen zu können. Dadurch fühle man sich zum Gegenstand der Beobachtung degradiert, als wollten „gewaffnete Blicke in mein geheimstes Innere dringen“.* Das ist nicht verwerflich. Es wird allerdings zur Demütigung, wenn es umgekehrt nicht in gleicher Weise geschehen kann, weil die Augengläser spiegeln. Nicht das Sehen, aber das Einander-Sehen konstituiert das freie Subjekt.**

* Eckermann, Gespräche mit Goethe, 5. April 1930, 642.
** Sartre hat den Blick aufs Genaueste beschrieben, nicht zuletzt als „Vernichtung der Gegenständlichkeit“. – Das Sein und das Nichts, 358

Da kommt noch was

Lebenslust: Ich erwarte Unerwartetes.

Geistesverwandtschaft

Im Tod seien wir alle gleich, heißt es, so dass die sonst maßgeblichen Unterschiede plötzlich ihre Bedeutsamkeit verlieren. Das mag stimmen, wie es allerdings auch richtig ist, dass im Sterben die Unterschiede noch einmal deutlich hervortreten. Helmut Kohl schildert in seinen Memoiren*, wie sich der schwer gezeichnete Willy Brandt in dessen letzten Lebenswochen immer wieder mit genauen Wünschen an ihn, den damals regierenden Kanzler wandte, nicht zuletzt mit der Bitte, die Nachricht vom Ableben bekanntzugeben, wenn es dann so weit sein werde. Es war folglich das christdemokratisch geführte Kanzleramt, dem es oblag, den letzten Willen des großen Sozialdemokraten zu erfüllen. Was in der politischen Heimat von Brandt das ohnehin gewachsene späte Befremden zur Verstörtheit steigerte. Man war hoch irritiert, dass die anstehenden Trauerfeierlichkeiten so ganz anders zu gestalten waren, als es sich in politisch links orientierte Vorstellungen fügen wollte. Da haben in den Monaten der deutschen Wiedervereinigung zwei große Köpfe einander erkannt, über Parteigrenzen hinweg, die beseelt von der Wucht eines welthistorischen Ereignisses für den Rest ihres Lebens selber einig geworden waren, weil sie sich plötzlich in der gemeinsamen Rolle des Protagonisten wiederfanden, der den Gang der Dinge durch persönlichen Einsatz zu erfüllen hatte. Auch da wuchs zusammen, was zusammengehörte.**

* Helmut Kohl, Erinnerungen 1990 – 1994, 486f.
** Willy Brandt in einem Interview, nicht in seiner Rede vor dem Schöneberger Rathaus am 10. November 1989, siehe: F.A.Z. vom 14. Oktober 2014

Der mündige Bürger

Nicht Führungsstärke, sondern Bürgersinn ist in einer Demokratie das Kommunikationsideal zwischen Regierung und Souverän. In dem Maße, wie die staatlichen Institutionen das Subsidiaritätsprinzip beherzigen und sich nur einmischen, wenn Hilfe geboten ist, also das Lassen dem Tun üblicherweise vorziehen, kann der Staat wiederum rechnen mit dem Engagement und der Initiative aller, die ihn tragen. Das Wiedererstarken der Demokratie beginnt mit einer Besinnung auf das, was Dienstleistung heißt. Sie definiert, schwierig zu sagen, im Grunde diese sehr komplexe Herrschaftsform.

Der nächste Schritt

Allen Prognosen, weitgreifenden Strategien, Spieltaktiken, Zukunftsszenarien oder Extrapolationen zum Trotz: mehr als den nächsten Schritt kann man nicht gehen, sofern man annimmt, dass jeder Zug, auch der kleinste, die Sache, den Weg im ganzen verändert. Und überhaupt erst die Bedingungen schafft, unter denen der übernächste Schritt zielgerichtet gesetzt werden kann. Man läuft nie nur in den Fußstapfen anderer, auch nicht auf ausgetretenen Pfaden, sondern zieht stets seine eigene Spur.

Was will man mehr?

Eine der dümmsten Floskeln, im Überschwang rascher Befriedigung gesprochen, ist der bräsige Ausruf „Was will man mehr?!“ Als ob nicht immer ein Steigerungsverlangen einsetzt, sobald aus der ersten Genugtuung wenigstens der Wunsch erwachsen ist nach Wiederholung. Das Mehr gehört zur Grundausstattung menschlicher Bedürfnisse und ist deren Qualitätsstandard. Die Vorstellung eines Glückszuwachses auszuschalten, zeugt nicht nur von Phantasielosigkeit, sondern dokumentiert ein elementares Unverständnis dessen, was Begehren genannt zu werden verdient. Der Mensch ist das Wesen, das stets mehr sein will, als es ist, um das zu sein, was es ist.

Der Tod des Liberos

Aus gegebenem Anlass eine Erinnerung an Franz Beckenbauer und die Rolle, die er maßgebend im Fußball, innerhalb und außerhalb des Spielfelds, ausgefüllt hatte. Ausschnitte aus meinem Essay „Der Tod des Liberos“ (hier geht es zur Originalfassung) der am 21. Juni 1985 im Magazin der „F.A.Z.“ erschien

„Der Libero, er ist mehr als nur ein ballverliebter Virtuose, ein Alleskönner und Polyhistor auf dem Spielfeld; er weckt unser schlechtes Gewissen, das quälende Bewusstsein einer gedankenarmen, mit sich selbst unglücklichen Zeit, die ihre Eroberer des Nutzlosen, Phantasten und Schwärmer zugunsten von Expertentum und Sicherheitsparolen ins geschichtliche Abseits hat laufen lassen …
Der Libero wird zur Metapher für jene Menschen, die sich vom Reglement unserer technisierten Welt, von Spezialisierung, Phantasielosigkeit und Passivität, allgemeiner: von den Formen unserer selbstverschuldeten Unmündigkeit nicht haben beirren lassen, weshalb sie sich auch gegen Festlegungen vehement wehren. Ob linker Flügel oder rechtes Mittelfeld – der Libero erscheint meist dort, wo man ihn am wenigsten vermutet …
Wieder ist es jener Franz Beckenbauer gewesen, der – allerdings nicht mehr als Akteur auf dem Spielfeld, sondern als trainierender Vordenker, „Teamchef“ genannt – der deutschen Fußball-Misere auf die Beine half. Gewitzt drehte er die Erkenntnis, der Libero sei ein aufgehobener Spezialist, einfach um: Wenn schon keine Charaktere mehr von der Art des Liberos zu existieren scheinen, muss wenigstens die Spielstruktur so ausgenutzt werden, dass der Gedanke des Liberos erhalten bleibt. Heute fungiert daher jeder dieser Experten der Fußballkunst in der Arena als so etwas wie ein freier Mann. Der Spezialist ist der aufgehobene Libero. Denn die wohldefinierte und fixierte Position eines Außenstürmers, eines linken Verteidigers oder Mittelfeldspielers ist aufgegeben worden zugunsten eines schwer durchschaubaren Systems ständig wechselnder Rollen. Der Außenstürmer, gerade hat er noch eine präzise Flanke seinem Kollegen zugespielt, entpuppt sich plötzlich als Außenverteidiger; und der spielgestaltende Mittelfeldregisseur offenbart sich in Wahrheit (aber was heißt hier „in Wahrheit“?) als gefährlicher Torschütze. Jede Position relativiert sich durch eine andere. Der Libero ist tot, – doch die Idee des Liberos triumphiert.“*

* Der Tod des Liberos, F.A.Z.-Magazin vom 21. Juni 1985, 42 – 47

Organisationsweltmeister

Nichts organisiert das Land so perfekt wie seinen eigenen Stillstand. Da werden Zeiten überpünktlich eingehalten und komplexe Systeme bestens aufeinander abgestimmt: hier die blockierte Autofahrt, dort die bestreikte Bahn. Man kann sich absolut darauf verlassen, dass dieser „Doppelwumms“, anders als die Preisbremsen, seine Bremswirkung voll entfaltet.

Bauernaufstand

Es scheint, als teste im Moment jede Interessensgruppe, wie viel Macht sie erhaschen kann von dem Volumen, das die Regierung politisch nicht ausfüllt. Jedes Machtvakuum ist eine stille Einladung, es mit den eigenen Absichten zu füllen. Im Grunde leidet das Land nicht an der falschen Politik, sondern an der fehlenden.

Was helfen könnte

In einer Demokratie hängt die Handlungsfähigkeit der Politik an der Fähigkeit, den Respekt vor der Person des anderen nicht zu verwechseln mit der Rücksicht auf seine Position. Nicht selten gewinnt man den Eindruck, dass der Ärger, zu viel Rücksicht genommen zu haben, ausgeglichen wird, indem man zu wenig Respekt zeigt. Es umgekehrt zu halten, dient nicht nur der Sache.

Auf der Suche nach dem verlorenen Volk

Wenn Politiker das Volk suchen, das ihnen entlaufen ist, finden sie es meist dort, wo das Volk die Politik sucht, die sich von ihm nicht entfremdet hat.

Realitätsfern

Der beschwörende Satz der Friedliebenden, Gewalt sei auch keine Lösung, provoziert nicht selten das Gegenteil – weil er nicht stimmt. Als bedürfte es eines Beweises, zeigen die, denen die Scheu fehlt, zu den Instrumenten der Zerstörung zu greifen, dass Gewalt stets neue Realitäten schafft. Das ist gerade die Faszination brutaler Macht, dass sie eine Schwierigkeit oft so schnell und gründlich zu behandeln vermag, wie es zivilen Antworten nicht gelingt. Am Ende bleibt nur ein Problem: dem Erfolg der Gewalt kein Recht zu geben, weil sie bei der Frage nach dem Zusammenleben ratlos bleibt.

Da staunst du

Der Gegen-Satz zur Philosophie: Ich habe schon lange aufgehört, mich zu wundern.

Nicht nichtssagend

Oft ist das Geschriebene dem Unaussprechlichen näher, als das Unausgesprochene im Gesagten präsent.

Kürzer geht es nicht

Alles, was anfängt, beginnt mit einem Ja.

Ein besonderer Dank

Dankbarkeit ist die versöhnliche Antwort auf ein Leben, das nie nur Erfahrung und Gestaltung ist, sondern ebensosehr auch als Widerfahrnis und Gewalt wahrgenommen wird. Anders als der Dank, der sowohl für etwas als auch bei jemandem spezifisch ausgesprochen wird, umfasst die Dankbarkeit stets Ganzes. Der leichte Hang zur Abstraktion, der ihr zu eigen ist, wird allerdings gegengearbeitet in der Konkretion eines, auf den die Dankbarkeit sich richtet, obwohl sie ihm nicht einmal je gedankt haben müsste.

Abschlussbilanz

Übung zum Jahresabschluss: schnell noch die Irrtümer als Lernerfolg umdeklarieren.

Im Schnee

Frisch gefallener Schnee, noch keine Spur zu sehen in der Landschaft. Es liegt eine Versuchung in der natürlichen Unberührtheit: die, der erste zu sein, dessen Tritte durchs Tiefe einen Pfad markieren. Und, wie in jeder Versuchung, die Scheu, Intaktes zu verletzen. Noch gibt es keinen Weg. Der entsteht erst, wenn wiederholt die immergleichen Schritte gegangen werden, die das Risiko eines Fehltritts minimieren. Wege sind Resultate der Anstrengung, risikoarm durchs Leben zu kommen. Sie finden sich dort, wo Menschen das Wagnis auf sich genommen haben, sich in zunächst unsicherem Terrain zu bewegen, vielfach und auf dieselbe Weise. Es ist die Bewegung der Beständigen. Wer nur das Neue sucht, schafft keine Wege, auch wenn er vorankommt.

Müde Mühen

Vorabend von Katastrophen: wenn müde Geister eine schläfrige Gesellschaft wachrütteln wollen.

Eilige Tage

Zwischen den Jahren: die Zeit, in der man es überhaupt nicht eilig hat, die restlichen Tage aufzubrauchen. Absichtslos zu leben, man könnte es verwechseln mit einer Rückkehr in die Kindheit. Das Leben verliert für einen Moment seine Strenge, die es auferlegt bekommt durch Termine, Hatz, Verpflichtungen und die rastlosen Ansprüche der anderen. Immer ist es die kurze Weile, in der ein Jahr auf sein Ziel beschleunigt zustrebt, in der die eigenen Ziele gelassen beiseite geschoben sind, um dem Dasein selbst Raum zu geben. Die Losung lautet: Nichts weiter. Aber auch das geht natürlich weiter, geht vorbei.

Ich brauche dich

Seltsames Wort: brauchen. Noch dazu das Partizip Perfekt: gebraucht. Nutzen und Nützlichkeit schränken seinen Bedeutungsspielraum ein bis hin zur schäbigen Variante des Abgenutzten. „Ein gebrauchter Tag“, so die Sprachformel der Sportler nach einem glanzlosen Misserfolg; sie entdeckt in diesem nichts als Wertloses. Es, was auch immer dieses „Es“ in der Funktion eines Handlungssubjekts sein soll, hat nichts gebracht. – Nur in der Vorstellung vom Himmel hält sich überall die Annahme, es könne einen Ort geben, an dem einen Platz zu haben nicht dasselbe meint wie, gebraucht zu sein.

A Crack in Everything

Das ist mehr als ein architektonisches Gesetz, auch eine theologische Regel: Öffnung und Helligkeit bedingen einander. Aber dem Licht genügt der kleinste Spalt.*

* Leonard Cohen, Anthem: „Ring the bells that still can ring / Forget your perfect offering / There is a crack, a crack in everything / That’s how the light gets in.“

Es begab sich aber …

Wenn es eine Sprache gibt, die dem Gott entspricht, der sich eingelassen hat auf die Endlichkeit des Menschen, dann ist es die erzählende.